Kritik zu Der Schamane und die Schlange – Eine Reise auf dem Amazonas
Das oscarnominierte Drama schildert die meditative Reise zweier Forscher durch das kolumbianische Amazonasgebiet
In einer Szene von Ciro Guerras Film »Der Schamane und die Schlange« steht ein deutscher Völkerkundler im kolumbianischen Dschungel einer Gruppe Eingeborener gegenüber. Der Häuptling hat eigenmächtig den Kompass des Forschers an sich genommen und bietet ihm nun allerlei Tauschobjekte dafür an. Aber der Europäer will nur seinen Kompass zurück. Erfolglos zieht er schließlich ab. »Seit tausend Jahren orientieren sie sich an der Sonne und den Sternen«, erklärt der aufgebrachte Mann seinem Begleiter, einem jungen Indio. »Wenn sie nun den Gebrauch eines Kompasses erlernen, geht dieses Wissen verloren!« Die lakonische Replik des Eingeborenen: »Du kannst nicht verhindern, dass sie lernen. Das Wissen gehört allen.«
Die Szene bildet eine Art Schlüssel zu Guerras Film: Binnen weniger Augenblicke illustriert sie den Graben zwischen den Kulturen, skizziert die unterschiedlichen »Wert«-Vorstellungen und die Definitionen von Besitz und Anspruch. Sie zeigt auch die Widersprüchlichkeit des »zivilisierten« Besuchers, der das Archaische der Ureinwohner einerseits bewundert, dabei aber auch eine paternalistische Arroganz entwickelt. Denn Tradition, das bringt Regisseur Guerra hier zum Ausdruck, muss keineswegs Technikfeindlichkeit oder Ablehnung von Fortschritt bedeuten. Und wenngleich die Szene zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt, hat die Gegenüberstellung eine zeitlose Gültigkeit.
»Der Schamane und die Schlange« basiert frei auf den Reisetagebüchern des deutschen Anthropologen Theodor Koch-Grünberg, der zwischen 1903 und 1915 das Amazonasgebiet erforschte. Im Film begibt er sich mit einem ehemaligen Sklaven und einem jungen, stolzen Schamanen namens Karamakate auf eine Flussfahrt ins Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Brasilien. Er will die Eingeborenen studieren, vor allem aber mittels einer legendären Pflanze seine Erkrankung heilen. Im Film heißt Grünberg nur »Theo«, und wenngleich er sich stets um Demut und Respekt für die lokalen Bräuche bemüht, lässt die christliche Konnotation des Namens sich symbolisch verstehen: Der weiße Mann als gefühlter »Gott« im Land der »Wilden«.
Die zweite Handlungsebene spielt 40 Jahre später und ist an die Amazonasexpeditionen des amerikanischen Ethnobotanikers Richard Evans Schultes (im Film nur »Evans« genannt) angelehnt, auch er ein Suchender in einer ihm fremden Welt. Guerra verwebt die beiden Zeitebenen auf kunstvolle Weise. Durch wiederkehrende Motive und identische Situationen lässt er die Wege der zwei Forscher zu einer meditativen Reise verschmelzen.
Evans will die selbe mystische Pflanze finden wie einst Theo. Auch er hofft auf ihre heilende Kraft, und auch er wird von Karamakate begleitet. Der Schamane war schon zu Theos Zeiten der letzte Vertreter eines Stammes, der offenbar von Kolonialisten und Kautschukbaronen ausgerottet wurde. Und wie damals führt er ein einsames Leben im Dschungel. Als junger Mann steht er dem alternden Theo gegenüber; als alter Mann dem jungen Evans. Beide Male versucht er, die Wissenschaftler abzuweisen, begleitet sie dann aber doch, als wäre das Warten auf Suchende seine eigentliche Bestimmung.
Tatsächlich ist Karamakate die zentrale Figur des Films, ein weiser Führer, der nicht nur die beiden Wissenschaftler in eine unbekannte Welt leitet, sondern auch den Zuschauer. Der Film zeigt das Amazonasgebiet aus seiner Perspektive, so wirkt die Region denn auch nicht wie ein »Herz der Finsternis«, sondern wie ein natürlicher Lebensraum. Schrecken und Bedrohlichkeit gehen nicht vom Dschungel aus, sondern werden von Eindringlingen in ihn hineingetragen. Die Wildnis wird weder finster mystifiziert noch poetisiert. Damit bildet »Der Schamnane und die Schlange« einen Kontrast zu Dschungelfilmen wie »Aguirre«, »Der Zorn Gottes« oder »Der schmale Grat«, die eher den Blick des Fremden einnehmen.
Ciro Guerra hingegen ist selbst Kolumbianer. Nach eigenem Bekunden will er ein Bewusstsein schaffen für eine Region und eine Historie, die auch von seinen Landsleuten kaum Beachtung finden. Mit der Neugierde eines Anthropologen nähert er sich der oft verdrängten Vergangenheit seines Landes. Die nüchternen, zugleich majestätischen Schwarzweißbilder seines Films greifen die Ästhetik historischer Fotografien von Männern wie Grünberg auf, deren Offenheit und Forscherdrang Guerra trotz mancher Kritik (Evans bietet Karamakate »viel« Lohn an – und zupft zwei Dollar aus der Tasche) mit großem Respekt begegnet. Umso drastischer inszeniert er die verheerenden Auswirkungen des Kolonialismus, der katholischen Missionierungen und des Raubbaus am Dschungel. Während Theo unmittelbar auf religiös motivierte Knechtung und grausamste Ausbeutung von Mensch und Natur trifft, wird Evans 40 Jahre später mit den Nachwirkungen konfrontiert, mit kultureller Entwurzelung und purem Wahnsinn. In einer surreal anmutenden Passage stößt er mit Karamakate auf eine verwahrloste katholische Mission, in der ein selbst ernannter Gottessohn mit seinen fanatischen Jüngern ein grausames Reich erschaffen hat. Frei von philosophischer Überhöhung bildet diese Episode einen bitteren Gegenentwurf zu Marlon Brandos »Königreich« in »Apocalypse Now«.
Leider verlässt Guerra sich über weite Strecken nicht allein auf die Kraft solcher Sequenzen, auf die schiere Präsenz der Darsteller und die Atmosphäre seiner Bilder. Immer wieder muss Karamakate in Monologen ausformulieren, was sich auf der visuellen Ebene längst vermittelt hat. So passend die prosaische Inszenierung auch ist, so wenig überlässt der Film der Vorstellungskraft des Zuschauers. Nichts bleibt in der Schwebe. Dabei hat Guerra in Karamakate einen Charakter, der auch ganz ohne Worte zu uns sprechen könnte. Er ist Bindeglied und Symbolgestalt: Wie seine Heimat hat er über die Jahrzehnte nichts von seiner kraftvollen Aura und seiner skulpturalen Anmut verloren. Aber die Traditionen und Überlieferungen seines Volkes hat auch er längst vergessen. Mit ihm wird ein Zeitalter endgültig zu Ende gehen.
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