Kritik zu Young@Heart
»Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen« – hieß es einst. In diesem Film des britischen Dokumentaristen Stephen Walker zwitschern die Alten Punk-Songs. Und sie tun das mit dem größten Vergnügen
Der Mensch ist – der Philosoph Martin Heidegger hat das immer wieder betont – ein ekstatisches Wesen. Er muss über sich hinausgehen, um bei sich zu sein. Nur so kann er, der Sterbliche, das Leben feiern. Davon handelt im Kern diese fulminant aufspielende, anrührende und begeisternde Dokumentation des Briten Stephen Walker.
Liest man die Ankündigung: »Dokumentarfilm über einen rockenden Senioren-Chor aus Northampton/Massachusetts«, befürchtet man etwas nett Sozialarbeiterisches wie die Vorstellung eines musikalischen Altenheimprojekts. Aber schon die Vorspannszene schlägt einen ganz anderen Akkord an, zieht den Zuschauer in Bann. Da steht der Chor, der sich »Young@Heart« nennt und aus 22 Mitgliedern im Alter zwischen 75 und 92 Jahren besteht, auf der Bühne von Northamptons Academy Theater. Erwartungsvolle Stille im Publikum, staunende Blicke. Eine kleine, zerbrechliche Gestalt löst sich aus der Chorgruppe, tritt ans Frontmikrofon. Die Dame heißt Eileen Hall und ist 92 Jahre alt. Sie hält kurz lächelnd inne, legt dann aber, den Songtext eher rezitierend als singend, los: »Darling you gotta let me know/Should I stay or should I go«. Das Publikum ist hoch gespannt, lauscht amüsiert-fasziniert, die Faszination kippt in Begeisterung. »Should I Stay or Should I Go« ist ein Song der Punkband The Clash. Er wird hier keineswegs als Parodie dargeboten, sondern gewinnt neue, elektrisierende Kraft, zeigt sich als kokette, selbstbewusste Überlebenshymne.
Diese Anfangsszene entstammt dem Auftritt, auf den der Film, der die siebenwöchige Probenarbeit des Chores durch alle Hochs und Tiefs begleitet, als großes Finale zusteuert. Die Reaktionen des Konzertpublikums sind genau die Reaktionen, die auch der Film in verschienen Etappen und Variationen hervorruft: vom ungläubigen Staunen bis zur begeisterten Anteilnahme. Zuerst das Staunen über die Lebendigkeit und den Witz dieser Alten. Wie schaffen sie es, eine solch energiesprühende Performance hinzulegen? Man spürt, dass die Chorarbeit ihr Lebenselixier ist, ihre Art des Widerstands gegen Altersbeschwernisse, gegen all die, zum Teil sehr schweren Krankheiten, mit denen sie zu ringen haben.
Die Songs, die Chorleiter Bob Cilman hingebungsvoll mit ihnen einstudiert – von James Browns »I Feel Good« bis zu Sonic Youths »Schizophrenia« –, sind Punk-, Soul-, und Popsongs, also nicht gerade der Song-Typ, den man von solch einem Oldies-Chor erwartet. Miss Eileen Hall und andere bekennen freimütig, dass sie Oper, Musical und Showtunes bevorzugen. Aber sie lassen sich herausfordern, gehen über die Grenzen ihrer eigenen Vorlieben hinaus. Und so verfolgt man staunend, fasziniert und gerührt, wie sie diese Songs zelebrieren, theatralisieren, verfremden, ihnen eine verblüffend eigenwillige Interpretation schenken. Wenn dann während der Probenzeit zwei der Chormitglieder ihren Krankheiten erliegen, wird der Schlussauftritt ihrem Andenken gewidmet. Ein Memento mori, das nicht resigniert, sondern karnevalesk das Leben feiert.
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