Gestutzt und gebrochen
»Karla« von Hermann Zschoche ist eine Besonderheit im Retrospektiven-Programm. Der Film, im Zuge des Kahlschlag-Plenums verboten, wird in der rekonstruierten Fassung, die 1990 von Kameramann Günter Ost erstellt wurde, gezeigt – und in einer Zensurfassung, die ungefähr den Stand der Dinge bei Abbruch der Arbeit an diesem Film aufzeigt. »Karla« war im November 1965 abgedreht, ganz kurz vor dem berüchtigten Plenum. Dass dieser Film betroffen sein würde, war schnell klar. Änderungskonzepte wurden erstellt, am Film wurde geschnitten, Ideen für Neusynchronisationen und Nachdrehs wurden erdacht – auch von Zschoche und seinem Co-Autoren Ulrich Plenzdorf. Der Film wurde verstümmelt.
Und eigentlich ist es ein Glück, dass die Politik auch diese Fassung nicht abnahm. Der Film wäre schlecht in die Geschichte eingegangen; wäre eine Rekonstruktion dann möglich gewesen, wenn der Film auf anerkannte Weise rausgekommen wäre?
Das Schicksal des Films spiegelt das Schicksal seiner Protagonistin: Der werden die Flügel gestutzt, sie soll in das System der Gängelung, der Linie, der Vernunft gebracht werden. Karla ist eine junge Lehrerin, frisch von der Ausbildung. Sie kommt in die Provinz. Und sie hat Verständnis für ihre Schüler. Sie will das Denken anregen. Nicht lehren, sondern das Lernen lehren. Nicht wissen sollen die Schüler, sondern Dinge selbst herausbekommen. Das alles ganz klar auf dem Boden des Sozialismus – aber ehrlich muss es zugehen, unbedingt ehrlich. Denn Ideale dürfen nicht verraten werden, gerade im Sozialismus nicht. Der Rektor hält zu ihr, er ist ein alter Kämpe des kommunistischen Kampfes, einer der Generation, auf der der antifaschistische Gründungsmythos der DDR beruht. Doch die Kreisschulleiterin kann mit diesem querköpfigen Firlefanz nichts anfangen. Und auch der Rektor braucht keinen Überschwang, die Schule muss funktionieren, auch wenn Karla in der Sache recht hat.
Zunächst aber erzählt Zschoche eine halbe Stunde lang eine sehr leichte, sehr luftige, sehr witzige Romanze. Karla lernt Kaspar kennen. Der spielt im Wald mit Ameisen. Hat ein Bootshaus. Klaut Aale aus der Reuse des Kombinats. Ist ein Freigeist, einer, der sich selbst ins Abseits gestellt und sich dort eingerichtet hat. Wie sich die beiden mit Schimpfwörtern belegen, als seien es Liebkosungen! Dieses schöne kleine Verwechslungs- und Eifersuchtsspiel bei einer Tanzveranstaltung! Diese Pointe mit »Nachtschicht« und »Nacktschicht«! Zschoche knüpft hier an an die Tradition von Opas Kino, 35 Jahre zuvor: Die herrlichen Komödien der Weimarer Zeit, Liebe, Luft und Leichtigkeit. Eine filmhistorische Brücke, die sich im Verhältnis zwischen Rektor und Lehrkraft widerspiegelt, der die Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes weitergeben könnte an die neue Generation von Lehrern, damit auch an die Schüler. Ein altes Foto von ihm in SA-Uniform: Das führt zu schweren Verwerfungen, weil die Jungen das Bild nicht richtig deuten können. Doch dazwischen steht die Generation, die in der NS-Zeit aufgewachsen ist. Die Schulrätin. Die Karla zu brechen versucht.
Der Film wurde nicht gebrochen. Er wurde verboten. Er wäre aber zur Schande geworden statt zum meisterhaft erzählten Entwicklungsdrama, wenn die Zensurfassung durchgekommen wäre. Ungefähr so, wie das US-Studio aus kommerziellen Erwägungen Terry Gilliams »Brazil« verfälschen wollten – die Studio's-Cut-Version auf der Criterion-DVD –, so wäre aus politischen Vorschlägen, Verfügungen, Verordnungen auch »Karla« zusammengehauen worden. Das väterliche Verhältnis zum Rektor weitgehend rausgeschmissen; Kaspar verunglimpft; und, das Höchste: Am Ende nicht das Liebespaar, das wir uns nach dieser langen Liebesanbahnung wünschen, sondern ein neues Pärchen, das zwar gewissen Grenzen überschreitet, aber nicht die der politischen Linie.
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