Ein warmer Tag im Januar
Vor zwei Tagen habe ich noch an ihn gedacht. Ich schrieb über eine Retrospektive mit Rom-Filmen, die noch bis Mitte Februar in Wien läuft. Ettore Scola ist in der Reihe würdig vertreten, aber es gelang mir partout nicht, eine Passage über ihn einzubauen. Wie bekommt man einen solchen Kinoort in den Griff, wenn man nicht mal 2000 Zeichen zur Verfügung hat?
Ich hatte am Sonntagabend den Ordner mit Texten hervorgekramt, die ich im Laufe der Jahre über ihn verfasst hatte. Heute morgen wollte ich ihn eigentlich zurückstellen ins Regal, aber dann erreichte mich die Nachricht seines Todes. Hastig stöberte ich bis eben darin, um zu schauen, wo ich bei mir selbst abschreiben könnte. Nun, da ich den ersten Nachruf fertig habe, blättere ich behutsamer in dem Scola-Ordner, der tatsächlich aus mehreren besteht und von einer Plastiktüte umschlossen wird. Diese Muße ist dem geduldigen Chronisten der italienischen Nachkriegszeit angemessener.
Ich habe ihn nur zwei Mal interviewt. Angesichts meiner innigen Liebe zu seinem Kino ist das wenig. Zum ersten Mal traf ich ihn auf dem Filmfest in München. Der Anlass seines Besuches war, wenn ich mich nicht irre, der späte deutsche Start von »Wie spät ist es?«. Ich erinnere mich, dass wir viel über seine Kameraleute sprachen. Das einträchtige Verständnis mit ihnen war wichtig für ihn, denn sein großes Thema war die Melancholie, und für die darf man keine banalen Bilder finden. Geflissentlich überhörte er, dass ich den Vornamen von Pasqualino de Santis falsch aussprach. Wir redeten ausführlich über die Commedia all'italiana, die ich damals noch sehr unterschätzte. Damals war Scola noch ein Fall wie Claude Sautet, den man nur gegen große Widerstände in Deutschland durchsetzen konnte. Die Zeitungsredakteure bestanden zu Recht darauf, dass man ihn den Lesern überhaupt erst vorstellen musste. Außer »Le Bal« hatte keiner seiner Filme hier zu Lande die gebührende Resonanz gefunden.
Etliche Jahre später sollte er nach Berlin kommen, um Interviews zum Start von »Gente di Roma« zu geben. Allerdings musste er kurzfristig absagen, da er eine schwere Erkältung hatte. Das war ein Glücksfall für mich, denn die Pressebetreuerin setzte nun alles daran, einen Termin in Rom zu organisieren. Für eine Hotelübernachtung reichte das Budget nicht, weshalb ich zu nachtschlafener Zeit aufbrechen und mit der Abendmaschine zurückkehren sollte. Dieser Januartag gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. In Italien war wenige Tage zuvor das Rauchverbot in Kraft getreten (gleichzeitig mit Irland – warum die zwei katholischen Länder die ersten in Europa waren, ist mir bis heute ein Rätsel), Verkäuferinnen und Kellner standen mit ihren Zigaretten auf der Straße und plauschten vergnügt in der warmen Morgensonne miteinander.
Ich hatte noch viel Zeit bis zu unserem Interview und stärkte mich mit einem Espresso nahe der Piazza di Spagna, um dann an ein paar Schauplätzen aus Scola-Filmen vorbeizuschlendern. Seine Wohnung lag nicht weit von der Piazza del Popolo, wo die alten Freunde aus »Wir hatten uns alle so geliebt« überraschend Vittorio Gassman nach Jahren wiedertreffen, der dort den parkenden Verkehr regelt (was zu einem hübschen Missverständnis führt). Einige Monate vorher hatte ich den Film in einer restaurierten Fassung in Paris wiedergesehen. Mit banger Vorfreude suchte ich sein Haus. Seine Gegend war, wie er mir berichtete, zu einem regelrechten Chinesen-Viertel geworden. Die Erkältung war ganz und gar nicht verflogen, aber er rauchte wie ein Schlot. Mein Italienisch hätte für ein Gespräch nicht ausgereicht, aber er hatte eingewilligt, mit mir Französisch zu sprechen. (Aber auch in dieser Sprache fiel es mir schwer zu vermitteln, weshalb »Verliebt in scharfe Kurven« ein toller Verleihtitel für »Il Sorpasso« ist, zu dem er das Drehbuch geschrieben hatte). Seine Frau Gigliola, mit der er seit 1957 verheiratet war, versorgte uns regelmäßig mit Espresso. So verbrachten wir bestimmt zwei Stunden miteinander. Er gehörte zu jener Geneneration, jenem Milieu, das sich selbstbewusst Rechenschaft ablegt. Mithin sprach er gern über seine eigenen Filme, eher mit Neugierde als Genugtuung. Was er Bemerkenswertes über »Gente di Roma« und seine Heimatstadt im Allgemeinen zu sagen hatte, findet sich bestimmt noch im Textarchiv der »Berliner Zeitung«.
Die zweite Stunde war ganz der Commedia all'italiana gewidmet. An deren Rehabilitation lag ihm viel, nicht nur um der eigenen Filme willen, sondern aus Bewunderung für die volkstümlich-subversive Tradition, aus der er hervorgegangen war. Das war aber auch eine einzigartige Zusammenballung von Talenten: Dino Risi, Mario Monicelli, Age & Scarpelli, Marcello, Ugo Tognazzi, Vittorio Gassman, Alberto Sordi. Nicht zu vergessen: Scolas häufiger Co-Autor Ruggero Maccari. Als gelerter Kommunist wurde er hellhörig, als ich ihm von der großen Resonanz erzählte, die die populäre Komödie in der DDR hatte. Noch hellhöriger wurde er, als ich ihm erzählte, wie heftig die DEFA mitunter diese Filme kürzte: Als politische Zensur, oder um der Kurzweil wegen? Gern wäre er nach Berlin gekommen, um in eine etwaige Retrospektive einzuführen (»Aber vor allem müssen Sie mit Stefania Sandrelli sprechen, die sieht noch ganz hinreißend aus und hätte viel mehr zu berichten als ich!«). Zu einer Retro in Berlin kam es nie, dafür aber in Wien und Zürich. Ich bemühte mich darum, dass die Veranstalter ihn einluden, aber das scheiterte dann wohl an Termingründen. Zum Abschied versprach ich ihm, in Frankreich eine DVD von »Capitaine Fracasse« aufzutreiben, der Version von Abel Gance, die er nicht kannte. Seine Fassung, einen Reisefilm, der komplett in der Studiokünstlichkeit von Cinencittà entstand, fand ich ganz bezaubernd. Ich weiß nicht, ob mein Paket ihn je erreichte. Jedenfalls hörte ich nie mehr von ihm. Lag es womöglich daran, dass ich ihm eine Kopie meiner DVD geschickt hatte und kein Original?
Einen halben Nachmittag hatte ich noch Zeit. Er hatte mir noch zwei weitere Drehorte genannt, die ich im Hochgefühl nach dieser schönen Begegnung eilig aufsuchte. Irgendwann verschlug es mich zur Stazione Termini, wo ich an einem Stand mit Plakaten und Fotos vorbeikam. Das waren meist Motive für Touristen, Audrey Hepburn und Gregory Peck auf seiner Vespa in »Ein Herz und eine Krone«, die Szene im Trevi-Brunnen aus »Dolce Vita« etc. Aber gleich daneben hin ein riesiges Szenenfoto mit dem freudig wiedervereinten Freunden aus »Wir hatten uns alle so geliebt«. Auf einmal ergriff mich ein ungeheures Gefühl des Einklangs: mit der Stadt, der italienischen Filmgeschichte, der Cinéphilie. Es war so unbeschreiblich richtig, dass ich das Foto entdeckte. Es zeigte mir, wie sehr sein Film, seine Filme überhaupt, um kollektiven Gedächtnis des italienischen Publikums gehörten und sein Selbstverständnis geprägt hatten. Am Liebsten hätte ich Ettore Scola angerufen, um ihm von meinem Glück zu berichten. Aber ich war dann doch zu schüchtern dazu.
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