Magnetismus
Ich bin nicht recht befugt, einen Nachruf auf ihn zu schreiben. Schließlich habe ich ihn nie in seiner berühmtesten Rolle erlebt. Da ich die Harry-Potter-Saga komplett geschwänzt habe, ist Severus Snape ein Unbekannter für mich. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, das zu bedauern. Immerhin sei Snape, versicherte die Redakteurin, die vorgestern auf der Suche nach einem geeigneten Autor anrief, das Beste an der ganzen Serie.
Ich habe keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Alan Rickman besaß auf der Leinwand eine samtene Autorität. Er musste seinen Partnern keine Szenen stehlen. Es genügte, wenn er seinen Figuren Konturen verlieh, damit sie zum Fokus der Aufmerksamkeit wurden. Diese Brillanz war der selbstlosen Erkenntnis geschuldet, dass seine Charaktere nicht selten die Klügsten im Raum waren. Man konnte ihnen einen ungeheuren Reichtum unterstellen: an Esprit und Wehmut, an Raffinement und Verschlagenheit. Als Schurke war dieser Meister des Hintergrunds ebenso bestrickend wie in romantischen Rollen. Zuletzt habe ich ihn in Patrice Lecontes »Ein Versprechen« als offenen Auges betrogenen Ehemann bewundert und als Ludwig den XIV in »Die Gärtnerin von Versailles«, bei dem er selbst respektabel Regie führte. Das alles klingt jetzt schon sehr nach einem Nachruf. Aber da mir dazu, wie gesagt, die endgültige Legitimation fehlt, will ich lieber erzählen, wie es war, ihm einmal zu begegnen.
Es liegt etwas mehr als 20 Jahre zurück. Sein Leinwandruhm war damals noch keine ausgemachte Sache. Sein Leinwanddebüt »Stirb Langsam« war erst fünf Jahre zuvor wie ein Blitz eingeschlagen; vor allem eilte ihm ein Ruf als glänzender Bühnendarsteller voraus. Er muss ein hinreißender Valmont in der Broadway-Inszenierung von »Gefährliche Liebschaften« gewesen sein. Ich lernte ihn kennen, weil in Babelsberg die Innenaufnahmen zu »Mesmer« stattfanden, einem Film, der unter anderen Umständen durchaus ein früher Höhepunkt seiner Filmkarriere hätte sein können - wenn ihn denn je jemand zu Gesicht bekommen hätte. Alan Rickman verkörperte die Titelrolle des geheimnisumwobenen Wiener Arztes Franz Anton Mesmer, der mit magnetischen Kuren und anderen dubiosen Heilmethoden experimentierte. Ich sollte einen Drehbericht schreiben. Auf ein Interview war ich gar nicht vorbereitet, hatte sogar mein Bandgerät daheim gelassen, obgleich mich mich die Presseagentin mit der Aussicht geködert hatte, eventuell ergäbe sich in einer Drehpause die Möglichkeit, mit dem Regisseur und dem Hauptdarsteller zu sprechen. An die Dreharbeiten habe ich keine große Erinnerung mehr; dazu müsste ich den alten Artikel hervorkramen. Vor allen Dingen erstaunte mich, wie hochgewachsen er war. Ich schätzte, Bruce Willis überragte er um wenigstens zehn Zentimeter.
Es ergab sich, dass ein Umbau der Dekors länger als vorgesehen dauerte und Rickman plötzlich viel Zeit totzuschlagen hatte. Er war eine vornehme Erscheinung; auf eine jugendliche, noch gar nicht gesetzte Weise. In Mesmers Gehrock schien er sich pudelwohl zu fühlen. (Kostümfilme lagen ihm ohnehin.) Falls ihn der Dreh in Anspannung versetzt hatte, war diese nun von ihm abgefallen. Allerdings war er, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, keine Jovialitätsmaschine. Vielmehr musterte er mich zunächst skeptisch. In dem Umstand, dass ich kein Bandgerät dabei hatte, fand sein Argwohn zusätzliche Nahrung. "Bekommen Sie das tatsächlich alles mit?" fragte er zwischendurch und machte zuweilen amüsiert eine Pause, damit ich mit dem Notieren seiner Worte hinterher kam. "Ich vertraue mal darauf, dass Sie ein gutes Gedächtnis haben", sagte er nach einer Weile vergnügt.
Seine Reserviertheit interpretierte ich anfangs als das Misstrauen eines Theatermenschen gegenüber einem Cinéphilen. Ebenso gut möglich ist, dass er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so oft in die Verlegenheit geraten war, Interviews zu geben. Er war sichtlich erleichtert, dass ich ihm keine Fragen zu Bruce Willis und kaum welche zu »Stirb Langsam« stellte, sondern mich mehr für seine anderen Filme interessierte. Es waren noch nicht viele. Als Sheriff von Nottingham aus dem Kevin-Costner-»Robin Hood« fand ich ihn zwar eine Spur zu ulkig. Dafür mochte ich »Im Zeichen der Jungfrau« sehr, den exzentrisch entspannten Profiler-Krimi mit Kevin Kline. Kaum vorstellbar, dass das erst seine zweite Kinorolle war! Bezaubernd fand ich ihn auch in seiner ersten Hauptrolle in »Wie verrückt und aus tiefstem Herzen« von Anthony Minghella,. Der heißt im Original »Truly, madly, deeply«, was mich zu dem Apercu verleitete, das sei aber ein ziemliches Pensum für einen Briten. Er quittierte es mit einem ermutigenden Lächeln: Unser Gespräch war auf einem guten Weg, von nun an ging es darum, gemeinsam im Dialog etwas zu erarbeiten.
Natürlich hatte er ausführlich recherchiert, sich hinreichend mit Leben und Epoche Mesmers vertraut gemacht. Entscheidender aber war für ihn, dass Dennis Potter das Drehbuch geschrieben hatte. Dieser sagenhafte Autor war, wenn ich mich recht erinnere, zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bereits gestorben. Rickman war glücklich, vielleicht sogar stolz, eine seiner Figuren verkörpern zu können, Aber seine Bewunderung glitt nie in Ehrfurcht über. Auch über Roger Spottiswoode, seinen Regisseur, hatte er viel Gutes zu sagen. Dass der einmal als Cutter bei Peckinpah gearbeitet hatte, nahm er mit vagem Erstaunen zur Kenntnis.
Ob ich ihn mir gut als Mesmer vorstellen könne, wollte er sodann wissen. Ja, erwiderte ich, bei Ihnen kann man sicher sein, dass es humorvoll, gewitzt zugehen wird. Diese Antwort irritierte ihn. Womöglich fragte er sich, ob er bereits so etwas wie ein Image besitzen könnte; überdies war er sich bestimmt bewusst, dass bei seinem Stil und seiner Rollenwahl die Süffisanz ein konstantes Risiko ist. Gleichviel, seine Neugierde war geweckt. Mir hatte meist der doppelte Boden gefallen, den er seinen Figuren einzog: nicht nur um der Ironie willen, sondern mit dem Instinkt des Komödianten. Das nahm er nur zögernd hin, also setzte ich nach: Ich hätte den Eindruck, er würde nach Drehbüchern Ausschau halten, in denen der Erzählton gebrochen wird, wie beispielsweise in John Patrick Shanleys Skript für »Im Zeichen der Jungfrau«. Die Idee gefiel ihm, er schätzte Autoren, deren Handschrift eigentümlich und fragil ist, sich nicht sofort einordnen lässt – genau wie bei Dennis Potter, den man auch nicht sofort begreift, sondern erst beim zweiten, dritten Lesen. In seiner Replik war jener sehr britische Respekt vor dem zu interpretierenden Text zu spüren, jene selbstbewusste Demut vor dem Wortlaut, mit der sich eine Rolle auch ohne viele Regieanweisungen in Besitz nehmen lässt. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, dass ich seine Antworten akkurat mitschrieb. Als ihn der Regieassistent schließlich zur nächsten Szene abholte, warf er noch einmal einen Blick auf meine Notizen. "Und Sie sind sicher," fragte er zum Abschied mit nun nicht mehr skeptischem, sondern verschwörerischem Schmunzeln, "dass Sie das alles später auch entziffern können?"
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