Kritik zu O'Horten
Nach seinem Ausflug in die USA mit »Factotum« kehrt der norwegische Filmemacher Bent Hamer mit seiner Tragikomödie über einen Eisenbahner, der in Rente geht, wieder in sein heimisches Biotop zurück
Man muss sich Odd Horten als glücklichen Menschen vorstellen. Als Lokomotivführer hat er den Traumberuf vieler kleiner Jungs und gleitet tagtäglich, in der Führerkabine von jeglicher Alltagsbelästigung abgeschirmt, pfeilgerade durch schneebedeckte Landschaften. Sogar seine Wohnung befindet sich neben Bahngleisen. Bei seiner Abschiedsfeier zur Pensionierung, nach der Verleihung der silbernen Lokomotive, beginnen seine Kollegen ein in diesen Kreisen beliebtes Ratespiel, bei dem man die auf Tonband aufgenommenen Fahrgeräusche dem richtigen Zug zuordnen soll. Wie aber soll ein Mann, dessen einziger Wunsch zum Renteneintritt es ist, mal mit dem Flugzeug statt mit der Bahn die Bergen-Oslo-Strecke zurückzulegen, sich zukünftig im zivilen Leben zurechtfinden?
Tatsächlich gerät O'Horten schon im Anschluss an die Feier und vor seiner allerletzten Fahrt total aus dem Gleis. Der Grund dafür ist – das wird so en passant gezeigt, dass man es fast übersieht – ein Türschloss mit Code. Anstatt zu läuten, fällt das Ding aus der Hauswand, als Odd, der sich damit nicht auskennt, drauftippt. Odd muss sich einen anderen Weg überlegen, um zum Privatumtrunk seiner Kollegen zu gelangen, und klettert die Leitern an der mit einem Baustellengerüst versehenen Hausfassade hoch.
Die Ähnlichkeit mit Jacques Tatis zögerlichem Slapstick rund um technologische Verheißungen ist unübersehbar in Bent Hamers neuem Film. Sein schlaksiger Held mit Pfeife ähnelt Monsieur Hulot, und auch Darsteller Bard Owe besitzt als Mann ohne Eigenschaften eine seltsame Alterslosigkeit und wirkt eigentlich zu jung für einen Pensionär, obwohl er in Wirklichkeit schon 72 Jahre alt ist. Zum Lachen geht er vermutlich in den Keller, und seine Wortkargheit erinnert an einen anderen skandinavischen Schweiger, Aki Kaurismäki, für den Sprechen bedeutet »weitere Luft in die Atmosphäre zu blasen«. Doch wo die Lakonie in Kaurismäkis Filmen oft etwas Kokettes hat, sind Odds Erlebnisse so absurd wie nachvollziehbar: Jemand redet auf der Männertoilette, um die peinliche Stille zu brechen, vom kommenden Eisregen. Kurz darauf hält sich Odd am Laternenpfahl fest, während ein Mann mit Krawatte ernsten Blickes auf dem Hosenboden die Straße hinuntersegelt.
Nicht jeder Running Gag sitzt, wie die etwas platten Szenen in O'Hortens Stammkneipe beweisen, wo im Angesicht schweigsamer Männer kleinere Merkwürdigkeiten passieren. Doch Hamer beweist in seiner Sketchparade über den Unruhestand dennoch aufs Neue sein untrügliches Gespür für eine Off-Exzentrik jenseits bloß skurriler Pointen. Dazu gehört, dass keines von Odds haarsträubenden Scharmützeln mit den Unwägbarkeiten eines Daseins außerhalb des Eisenbahnersystems schlimme Folgen zeitigt – und dass ein Witz durch Implosion stets lustiger wird als durch Explosion. Beim Gerüstklettern landet er bei einem kleinen Jungen, der ihn zwingt, dazubleiben. Beim Saunabesuch verschläft er die Schließung und flüchtet im Pool lautlos vor zwei nackten Frauen. Auf seiner planlosen Odyssee strandet er bei einem alten Mann, der mit geschlossenen Augen Auto fährt.
Der Norweger Bent Hamer ist seit seinem bizarren Werk »Eggs« ein ewiger Geheimtipp. In »Eggs« werden die eingespielten Rituale eines alten Junggesellenduos durch einen Eindringling aus dem Lot gebracht. Auch in der nachfolgenden Tragikomödie »Kitchen Stories« zerstört ein Eindringling die monadische Existenz eines Hagestolzes, indem er sich auf einem Hochstuhl in dessen Küche einnistet. Im Dienste der Marktforschung soll der stumme Beobachter alle Bewegungen des Bewohners aufzeichnen, damit zukünftig die Küchenarbeit rationeller gestaltet werden kann. Diese surreale Kollision abstrakter Bürokratenlogik mit menschlicher Unberechenbarkeit ist ein »Must See«, das an die besten Tage zum Absturz bringt. Auch der Junggeselle Odd wird durch die exakt getaktete Eisenbahnerwelt wie in einen Kokon eingehüllt, und nur wenn er mit Kollegen über Motoren oder Pfeifen fachsimpelt, glimmt so etwas wie Leidenschaft auf. Doch dieser Held aus dem Land der Skispringer ahnt, dass hinter all der Planung und Berechnung buchstäblich der Abgrund lauert. So durchzieht die Tragikomödie nicht die Angst vor dem Tode, obwohl um den Neurentner herum dauernd gestorben wird: Es ist die Angst vorm Leben, die den fitten Senior umtreibt. Das Reale und zugleich den rettenden Hafen vor der Totalverkauzung repräsentieren hier wie in so vielen Komödien ein Hund und eine Frau – ein konventionelles, aber herrlich sprödes Happy End.
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