Nachruf: Donald Sutherland

Ein Philosoph und Szenendieb
Donald Sutherland

Donald Sutherland

17. 7. 1935 – 20. 6. 2024

Er besaß Gaben im Übermaß. Das fing mit seiner Körpergröße von 1,92 Metern an. Jeder Aspekt seines Gesichts war lang: die Ohren, Zähne, Lippen und die Brauen, die sich wie Gebirgszüge über den Augen erheben konnten. Und dann erst die Gliedmaßen: Er wusste zwar, wohin mit seinen Armen, aber die Beine passten in keinen Bettrahmen. Kein Wunder, dass er als Fellinis Casanova schleunigst aus den Bleikammern flieht!

Die Leinwandpartner, die größer als Donald Sutherland waren, kann man an einer Hand abzählen. Clint Eastwood und Max von Sydow überragten ihn um einen Zentimeter; in »Die Todeskarten des Dr. Schreck« saß er Christopher Lee (1,96) gegenüber, ohne im mindesten eingeschüchtert zu sein; in der Größenordnung von »Das dreckige Dutzend« war er die Nummer Zwei nach dem Hünen Clint Walker (1,98). Sein erbittertster Gegenspieler war indes ein Zwerg, der im roten Regenmantel durch Venedig spukt. 

Sein Gardemaß spielte er ohnehin in den meisten Filmen herunter und verwandelte es in eigentümliche Eleganz. Die gestische Vertrautheit zwischen ihm und seinen Mitspielern behinderte es nie, sondern war nurmehr die physische Bekräftigung der Möglichkeiten, die ihm offenstanden. Der gebürtige Kanadier war ein Chamäleon, das man augenblicklich wiedererkannte. Zum Star wurde er 1970 als sinnenfroher Chirurg in Robert Altmans Militärsatire »M*A*S*H«, die nur zum Schein während des Korea-Kriegs spielt. Einen noch prächtigeren Anachronismus verkörperte er im gleichen Jahr in »Stoßtrupp Gold«, wo er als tiefenentspannter Panzerkommandeur während des Zweiten Weltkriegs wie ein Hippie redet und eine gleichgesinnte Kommune um sich schart. Zu Ruhm gelangte er mithin als ein Zeitgeist-Darsteller, was aber bald das Sprungbrett zu einer staunenswerten Vielseitigkeit wurde. Er konnte seine Figuren in unterschiedlichen Epochen und Gesellschaftsschichten verankern. Wunderbar ist beispielsweise seine Studie einer sich treuherzig selbst korrumpierenden New Yorker Geldaristokratie in »Das Leben – Ein Sechserpack«. Aber vor allem gab er völlig gegensätzlichen Charakteren scharfe Konturen. Er maß menschliche Extreme aus. Was etwa hätte der kaltblütige Nazi-Spion, der in »Die Nadel« mit chirurgischer Präzision tötet und seinen Häschern dank herrenmenschlicher Tücke immer wieder entkommt, mit dem friedfertigen, liberalen Lehrer gemeinsam, der in »Weiße Zeit der Dürre« während des Soweto-Aufstandes einen hohen Preis für seine Zivilcourage zahlt?

Ab den 1980ern gelang es ihm, an frühere Rollen anzuknüpfen, nun unter anderen Vorzeichen. Die Marionette der Lust, die er für Fellini spielt, findet ein vergnügtes Echo in der springteufelnden Libido, der sich sein rüstiger Veteran in »Space Cowboys« rühmt. Die Gegensätze überführte er oft in eine Harmonie der Gegensätze. In »Klute« empfindet Jane Fonda seine Präsenz, die sich beharrlich in ihr Leben drängt, als ebenso gewährend wie bedrohlich. Erstaunlich, wie oft er und Julie Christie der Trauer über den Unfalltod ihres Kindes in »Wenn die Gondeln Trauer tragen« ein sachtes Lächeln abtrotzen (auch darauf gibt es eine schöne Replik: »Eine ganz normale Familie«).

Seine Karriere war ein Wunder der Ausdauer. In 62 Jahren absolvierte er rund 200 Film- und Fernsehauftritte und blieb auch dem Theater lange treu. Mit der »Tribute von Panem«-Saga erschloss er sich eine neue Publikumsgeneration. Er musste allerdings auch ein umfangreiches Familienleben (seine Kinder, die aus drei Ehen hervorgingen, sind allesamt nach Regisseuren benannt) und eine spät entdeckte Leidenschaft für die großen Bordeauxweine finanzieren. Brotarbeiten veredelte er mit Charisma und Hingabe, auch halbherzige Charaktere spielte er mit vollem Einsatz. Keiner seiner Kollegen kannte sich so gut mit Brennweiten aus wie er. Attraktive Angebote von Sam Peckinpah und John Boorman lehnte der überzeugte Pazifist ab, weil er ihre Projekte zu gewalttätig fand. Es war ihm unerträglich, sich Bertoluccis »1900« noch einmal anzuschauen, wo er einen bestialischen Faschisten spielt. Sutherland brachte eine persönliche Haltung in seine Filme ein. Seine Rollen konzipierte er als Philosoph und Szenendieb. Manchmal genügte ihm eine einziger Auftritt, um einem Film wie »JFK« augenblicklich Gewicht zu verleihen. Er kannte sein Maß.

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