Berlinale: Eigensinnig
»Esquí« (2021). © Manque La Banca
Mit einer enormen künstlerischen Vielfalt ging das Internationale Forum des jungen Films in diesem Jahr an den Start. Dabei waren Newcomer und Forum-Regulars
Wie bei den anderen Sektionen der Berlinale waren Planung und Vorbereitung des diesjährigen Forums von großer Unsicherheit geprägt. Und auch hier schlug sich das Geschehen drumherum in den Filmen selbst und ihrer Auswahl nieder. Ganz bewusst habe man Arbeiten gesucht, die »in ihren Plots und Konstellationen die Unberechenbarkeit umarmen«, wie es in der Programmankündigung so schön heißt. Das Ergebnis ist – im zweiten Durchgang von Forumsleiterin Cristina Nord – eine erfreuliche Vielfalt künstlerischer Ansätze, die eine starke gesellschaftliche Haltung mit ästhetischem Eigensinn und medialer Selbstreflexion verbinden. Dabei sind die narrativen Brechungen nie Selbstzweck und die enge Verzahnung fiktiver mit nicht fiktionalen Erzählweisen zum selbstverständlichen Handwerkszeug geworden. Säuberlich in ein Programm auflösen lassen sich die meisten der Arbeiten in ihrem dramaturgischen Übermut – zum Glück – nicht. Exemplarisch genannt sei hier Manque La Bancas Debütfilm »Ésqui« (Preis der Fipresci), der in einer langen, vielfach gebrochenen Kamerafahrt vom gediegenen Zentrum einer Stadt zu den Hütten der Menschen indigener Herkunft führt, die am Skilift und anderswo die Infrastruktur besorgen. Wir sind am Cerro Catedral in den argentinischen Südanden, wo ein malerisches Skiresort viele Touristen anzieht. Erzählt ist die argentinisch-brasilianische Koproduktion als multiperspektivische Collage mit vielen Genrezitaten zwischen Komödie und indigenen Monstermythen. Am Ende braucht es einen listigen Trick postnaiven Filmemachens, um ganz deutlich auch die lange argentinisch-europäische Geschichte von Enteignung und Unterdrückung in den Film zu bringen, wo heute wieder Landkäufer wie Luis Benetton den einheimischen Mapuche ihre Lebensgrundlagen nehmen.
Ein klassischer – doch in seiner Intimität sehr starker – Dokumentarfilm im beobachtenden Modus ist »Garderie Nocturne«, der den Alltag einiger befreundeter junger Mütter in Burkina Faso begleitet, die für ihre nächtliche Arbeit als Prostituierte und ein bisschen Freizeit danach ihre Kinder von einer »Nachtmutter« versorgen lassen. Drei Jahre hat Regisseur Moumouni Sanou für den dichten Film recherchiert, in dem er seine privat männerfrei lebenden Heldinnen cool, lebenslustig, fürsorglich und verletzlich zeigt.
Neben vielen neuen Stimmen gab es auch Bekannte wie Avi Mograbi, der – ganz Corona-gerecht vom Sessel – mit sarkastischer Bitterkeit durch die drei Kapitel seines »gekürzten Handbuchs der militärischen Besetzung« führt. Gemeint ist in »The First 54 Years« die israelische Okkupation von West Bank und Gaza, deren Herrschaftsmechanismen Mograbi paradigmatisch für andere besetzte Gebiete sieht. Das Material der chronologischen Erzählung sind Aussagen ehemaliger Armeeangehöriger aus dem Archiv der NGO »Breaking the Silence«.
Forum-Regulars sind auch Stefan Kolbe und Chris Wright, die sich in Anmaßung durch Entblätterung des Entstehungsprozesses konsequent mit den Methoden dokumentarischen Filmens auseinandersetzen. Objekt der versuchten Annäherung ist ein in Strafhaft befindlicher Mörder, der im Film nur verfremdet durch fragmentarische Redefetzen, Teilansichten und als Puppe präsent ist. »Das ist kein Film über Stefan. Das ist ein Film darüber, wie wir uns ein Bild von ihm machen«, heißt es.
Um Bilder geht es auch im Film des französischen Regisseurs Christophe Cognet: Fotografien, die KZ-Gefangene heimlich im Inneren der Lager selbst gemacht haben. »À pas aveugles« zeigt diese Fotos und untersucht sie mit Forschern verschiedener Archive dort und am Ort der Aufnahme. Wenn dann große Abzüge auf Glas als »Realüberblendungen« in die jeweilige Topografie gestellt werden, kommt mit den dahinter spazierenden Besucher*innen der heutigen Gedenkstätten eine unheimliche Bewegung ins Bild. Dass, wie der »Tagesspiegel« Anfang März berichtete, der deutsche Co-Produzent Robert Cibis mit seiner Firma Ovalfilm seit einiger Zeit auch Corona-Leugnern im Netz eine Plattform bietet, ändert an der Stärke und Brillanz dieser Quellenforschung nichts.
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