Seine Musik ist unendlich

Zum Tod von Ennio ­Morricone
Ennio ­Morricone

Ennio ­Morricone

Am 6. Juli, mit 91, ist der große italienische Filmkomponist Ennio ­Morricone gestorben. Statt eines klassischen Nachrufs: eine Hymne auf seine unverwechselbare Klangwelt, in der es sägt und seufzt und schluchzt

Seine Musik ist wie eine seltsame Zwiebel. Unter jeder Haut kommt eine weitere zum Vorschein, und immer so weiter und immer anders, und so schälen sich nicht nur Motive aus Motiven heraus, und Räume aus Räumen, und Ideen aus Ideen, und Gefühle aus Gefühlen, sondern auch cineastische Momente aus cineastischen Momenten. 

Seine Musik ist manieristisch. Was unter vielem anderen heißt, es gibt nicht das Hauptsächliche und das Dienende, sondern die Effekte der Bewegung und der Verdrehungen drängen in die Mitte und wieder aus ihr heraus; musikalische Peripherie im traditionellen Sinne wird urplötzlich zum einzigartigen Erlebnis. Instrumente oder Spielweisen, die man ansonsten aus der musikalischen Provinz kennt, besetzen eigensinnig das Zentrum von Ennio Morricones musikalischem Zirkus – wenngleich nicht immer so einzigartig und urplötzlich wie eine quälende Mundharmonika und ­eine wahrhaft sägende E-Gitarre im Leone-Morricone-Film par excellence, »C'era una volta il west – Spiel mir das Lied vom Tod.« Manieristisch heißt auch: kein statischer Raum mehr, sondern im Gegenteil die Auflösung des Räumlichen. Meistens be­ginnen Morricone-Kompositionen mit einem Plumps. 

Seine Musik ist italienisch. Das Opernhafte und das Volkstümliche begegnen sich ohne Dünkel. Man darf »schmettern«, ohne dass dies gleich ästhetisch oder ideologisch ausgewertet wird.

Seine Musik ist unendlich. Sie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern sie bildet eine Stafette durch die Handlungen, sie könnte unendlich fortgesetzt werden, aber nicht repetitiv, nicht einmal einfach seriell, sondern immer nur in ständigen Transformationen.

Ennio Morricones Musik ist in den Filmen der großen Regisseure und Regisseurinnen (Lina Wertmüller in »I Basilischi«, um die interessanteste zu nennen), mit denen er zusammenarbeitete, kein Zulieferer und Paradigmatiker; sie ist syntagmatisch in dem Sinne, dass sie eine Handlung dorthin trägt, wo sie ein Drehbuch allein nicht hintreiben könnte.

Seine Musik ist transzendent. In den Western und Gangsterfilmen wissen wir durch seine Musik, dass es sich nicht um »Epen« handelt, um eine metaphorische Gleichung zwischen Story und History ­also, sondern um Tragödien. Von Anfang an setzt ­Morricone Musik dem tragischen, schicksals­haften, manchmal auch absurden Ausgang der Geschichten voraus, das große Scheitern des Einzelnen an der Struktur.

Ennio Morricones Musik ist dialogisch. Vieles in seinen Kompositionen basiert auf dem Prinzip von Frage und Antwort, manches auf dem von Call and Response. Das Orchester nimmt die Stimmen der Solisten und vor allen der (Chor-)Sängerinnen auf, um ihre Motive fortzusetzen.

Seine Musik ist postmodern. Sie scherte sich nicht um eine Architektur des Klassischen, des Modernen, des Romantischen und des Avantgardistischen. Sie steckt voller Zitate, aber die sind keine »Anverwandlungen«, sondern im Gegenteil ex­trem ausgestellte Versatzstücke. Kein Wunder, dass Morricone auch immer wieder zum Steinbruch wird für ­junge Musikerinnen und Musiker sehr unterschiedlicher Gattungen.

Man muss Ennio Morricones ­Musik mit-atmen. Nicht bloß mit der Lunge, mit dem ganzen Körper. Es sind Seufzer und Aufatmen, Stocken und Schnaufen darin, Fallen und Aufstehen, Fliegen­wollen und Verwurzeltsein. Aber es ist auch Musik des Reigens, eine Musik, die die Ambivalenzen des Zirkus und seiner Manegen-Umzüge bewahrt. 

Seine Musik beschwört, das klingt vielleicht seltsam, eine weibliche Seele. Es ist immer eine abwesende Mutter in seinen Italo­western und Gangsterfilmen, die um das Schicksal ihrer Gewalt ausübenden und Gewalt erfahrenden Söhne trauert und sie in einen ewigen Schlaf wiegen möchte. Den ewigen Schlaf spürt man beinahe in allen seinen Filmmusiken, ebenso wie eine Erinnerung, woran nur. An Kindertage voller Hoffnungen vielleicht. Was es statt­dessen fast nie gibt, sind maskulinistische und heroische Gesten. Seine Musik beschreibt fast immer Trauer, fast nie Zorn, gelegentlich aber eine fatalistische Todessehnsucht, selt­same ostinate Todestänze. 

Was Ennio Morricones Musik nicht kennt, ist Virtuosität. Seine Musik ist immer entkernt, als gäbe es in ihr nichts anderes als das Wesentliche, das Ein und Alles, und als wäre es von größter Bedeutung, dass jede und jeder jeden Ton in seiner Klarheit verstehen und zuordnen müsse. 

Morricones Musik ist niemals Nebensache. Er hat auch die Musik für ein paar schlechte Filme gemacht, und da erscheint sie, als würde sie geradezu auf die Schlechtigkeit der Filme hinweisen wollen. Was natürlich Quatsch ist. Und doch ist es ein merkwürdiges Gefühl, ausgerechnet in seinen Arbeiten für die Bibelfilme zu bemerken, dass seine Musik eine Transzendenz erzeugt, die die Filme dann einfach nicht hergeben wollen. Sie haben sie nicht einmal erahnt.

Seine Musik ist unerbittlich. Im richtigen Leben ist sie ziemlich unerträglich. Um die Wahrheit zu sagen (auch wenn es eine kleine Blasphemie darstellen mag): Ohne die Filme kann einem die Musik von Ennio Morricone ziemlich auf die Nerven gehen. Es sei denn, was ja in ihrer Natur liegt, sie wird neuer­lichen Transformationen unterzogen. Und so, zwiebelhaft, geht es fort in die Unsterblichkeit von Ennio Morricone.

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