»Cahiers du cinéma«: Feindliche Übernahme
© Cahiers du cinéma
Was ist in Frankreich los? Nach den Césars ist jetzt auch die legendäre Zeitschrift »Cahiers du cinéma« in der Krise. Warum die 15-köpfige Redaktion geschlossen zurücktrat
Das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe stellt eine außerordentlich spannende, vielgestaltige Lektüre in Aussicht. Der Schwerpunkt des März-Heftes ist dem Thema Filmbildung gewidmet. Die aktuellen Filmstarts werden kritisch gewürdigt, ein Korrespondent schaut auf die neue Berlinale; unter den Nachrufen findet sich auch einer auf den Schauspieler Volker Spengler. Aber den Auftakt des Märzheftes bildet ein Abschied: In seinem »The End« betitelten Editorial erklärt Stéphane Delorme, weshalb die 15-köpfige Redaktion der »Cahiers du cinéma« geschlossen ihre Kündigung einreichte.
Als Anfang Februar bekannt wurde, eine Investorengruppe habe den Titel erworben, überwog in den Pressereaktionen noch Erleichterung. Die 1951 gegründete Zeitschrift, deren offizielle Auflage in den letzten Jahren von 15.000 auf 12.000 Exemplare sank, schien gerettet. Zwar konnte sie ihre Kioskverkäufe im letzten Jahr steigern und war angeblich kurz davor, schwarze Zahlen zu schreiben. Aber der Markt für anspruchsvolle Filmzeitschriften ist in Frankreich empfindlich geschrumpft. Fusionen oder Verkäufe haben das Verschwinden einst populärer Titel wie »Ciné live« und »Studio« besiegelt. Seither ist »Premiere« als letzte Publikumszeitschrift übrig geblieben. Wacker hält sich noch »Positif«, der traditionelle Rivale der »Cahiers«.
Rivale der »Cahiers«. Was die neuen Besitzer, ein Konsortium von 20 einflussreichen Playern im Mediengeschäft, an einem kleinen Verlag reizt, der im Handelsregister mit einem Kapital von 18 113,82 € eingetragen ist, blieb nicht lange ein Rätsel. Sie wollen der Zeitschrift eine frische Dynamik geben, das Layout soll »chic« und die Haltung »freundlicher« werden. Es braucht einige Fantasie, um diese Adjektive mit den »Cahiers« in Verbindung zu bringen. Sie waren immer esoterisch und streitbar. Die Investoren wünschen sich zudem eine engere Partnerschaft mit Institutionen, insbesondere dem Festival von Cannes, dem die Kritiker der Zeitschrift nie einen schlechten Jahrgang durchgehen ließen. Im Kern erwarten sie, dass die »Cahiers« ein positiveres Bild des französischen Autorenfilms zeichnen.
Für eine Redaktion, die seit den Tagen von François Truffaut die Trägheiten und Fehlentwicklungen dieses Autorenfilms stets kritisch analysierte und im Gegenzug seine Erneuerungen enthusiastisch feierte (unlängst etwa »Die Wütenden« und Nadav Lapids »Synonymes«), ist es selbstredend unerträglich, das heimische Kino schönzureden. Einwände erhebt sie überdies gegen die Zusammensetzung der Gruppe, der acht Filmproduzenten angehören sowie der Chef einer Versicherung, die 40 Prozent aller Dreharbeiten in Frankreich abdeckt. Interessenkonflikte seien in dieser Gemengelage vorprogrammiert, befürchten die Redakteure, die sich des Verdachts nicht aussetzen wollen, Gefälligkeitsartikel zu schreiben.
Ein weiterer Dorn im Auge ist ihnen die Medienmacht, die sich in dem Konsortium konzentriert. Ihm gehören der Besitzer des »Le Monde«-Imperiums, der Verleger von »Le Film français« und »Premiere« sowie der Gründer des Nachrichtenkanals BFM an, dessen verzerrende Berichterstattung über die Gelbwesten-Proteste Chefredakteur Stéphane Delorme in seinen Editorials wiederholt kritisierte.
Unter ihm gewann die Zeitschrift in den letzten elf Jahren ein eminent kämpferisches Profil. Sie stellte mit jeder Ausgabe ihre cinephile Erregbarkeit unter Beweis, wollte ästhetische und politische Positionen nicht voneinander trennen. Delorme war stets zur Stelle, wenn es galt, die Irrwege des Macronismus zu geißeln, etwa seine Ernennung eines großzügigen Wahlkampfspenders zum Chef der staatlichen Filmförderung CNC; mit Clint Eastwoods »The Mule« argumentierte er gegen Macrons Neoliberalismus.
Der Fokus blieb stets international. Die thematischen Schwerpunkte, die die »Cahiers « letzthin setzten, sind erhellend (ein 70-seitiges Dossier über Regisseurinnen), dringlich (eine Bestandsaufnahme des brasilianischen Kinos im Gegenwind Bolsonaros) und oft originell (die Aprilnummer 2019 begrüßt den Frühling mit einem Dossier über Pflanzen im Kino). Die Unabhängigkeit der »Cahiers« ist unverzichtbar für die Filmkultur, nicht nur in Frankreich. Wie es weitergehen wird, steht derzeit in den Sternen. Welcher integre Filmjournalist wäre unter diesen Umständen bereit, die Stelle seiner Kollegen einzunehmen?
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