Interview: Sebastian Schipper über seinen Film »Roads«
»Roads« (2019). © Studiocanal
Wie war es für Sie nach dem Kraftakt von »Victoria« (138 Minuten in einer Einstellung)? Haben Sie Sich gesagt, als nächstes drehe ich einen kleinen, unaufwändigen Film? Oder, nachdem der Film auch international auf Resonanz stieß, jetzt nutze ich meine Chance für ein Angebot aus Hollywood?
Ich finde Hollywood natürlich toll, aber die Stoffe, die mir angeboten wurden, haben mich nicht so angesprochen. Denn der generelle Gedanke von Hollywood ist etwas ganz anderes als die konkrete Situation. Man sehnt sich schon danach, dass das Filmemachen ganz einfach ist und dabei trotzdem hochgradig erfolgreiche und spannende Filme herauskommen. Aber spannende Sachen entstehen dadurch, dass man Risiken eingeht. Ich glaube, das merkt man den Projekten auch an – ob jemand etwas riskiert hat oder auf sicher spielt. Wenn man auf sicher spielt, kann man recht weit kommen, aber man kommt nicht ins Finale der Champions League, sagen wir es mal so.
Die Idee zu diesem Film ist schon älter als »Victoria«?
Die Idee gibt es schon sehr lange, die hatte ich schon gleich nach »Absolute Giganten«. Der Film handelte ja von der letzten Nacht einer Freundschaft, »Victoria« handelte ebenfalls von einer Nacht, ich wollte aber immer mal einen Film über den einen Sommer drehen, den ersten Sommer, den man ohne die Familie verbringt, wo man das erste Mal mit einem Freund losfährt. Die Idee hatte ich schon ganz lange. Nun sind es zwei Achtzehnjährige geworden, die mit einem geklauten Auto durch Europa fahren. Aber die Idee hat erst Energie bekommen, als wir gesagt haben, der eine ist aus London, ein privilegierter westlicher Junge, der andere aus dem Kongo. Trotzdem wollten wir aber kein Sozialdrama drehen. Ich war davon fasziniert, nach dem technischen Wahnsinn, einen Film in einer Einstellung zu drehen, mich diesmal inhaltlich auf dünnes Eis zu begeben – zu sagen, meiner Lebenssituation entspricht es, dass ich mich über eine tolle Bar freue, über einen tollen Kaffee, über ein paar tolle Sneaker, und trotzdem mit meinen Freunden über Politik diskutiere und mir Sorgen mache über die Welt, in der wir leben. Wir wollen Lebensfreude zeigen, das Entstehen einer Freundschaft, und trotzdem eine Lebenswirklichkeit, eine Realität zeigen. Unsere kleine Sommerreise lassen wir nicht in einem Filmeuropa spielen, das es vielleicht schon gar nicht mehr gibt, sondern in dem von heute.
Die Idee der Internationalität kam erst nach dem Erfolg von »Victoria«?
Natürlich hätte ich »Roads« nicht machen können ohne »Victoria«. Andererseits: alle »Victoria«-Murmeln in dieses Körbchen »Roads« zu packen, ist auch ein bisschen wahnsinnig. Aber ich wollte dieses Risiko. Nehmen wir mal an, »Victoria« hätte nicht geklappt – ich weiß auch nicht, was ich dann gemacht hätte. Auf jeden Fall hätte ich »Roads« dann so nicht drehen können, oder Fionn Whitehead hätte nicht den Jungen gespielt. Zu dem Zeitpunkt wusste keiner außer ihm selber, dass er eine Hauptrolle in »Dunkirk« spielt, er hätte es wahrscheinlich gar nicht zu lesen bekommen von seiner Agentin. In diesem Fall war die Agentin, wie sie mir jetzt gerade in New York gesagt hat, ein riesiger »Victoria«-Fan.
Der Film ist als deutsch-französische Ko-Produktion mit Unterstützung des Förderprogramms Mini-traite entstanden. Kam dadurch Ihre französische Cutterin dazu?
Ja, aber sie war ein Segen, weil sie ganz toll ist und gerade Frankreich (und die Hälfte unseres Teams kam dorther) ein Filmland ist – Film ist dort wirklich bedeutungsvoll, das spürt man, wenn man mit Franzosen Filme dreht.
Hat sich der außergewöhnliche Dreh von »Victoria« hier irgendwie bemerkbar gemacht? Konnten Sie etwas mitnehmen – vielleicht auch in dem Sinne, es hier anders zu machen?
Ja, wir drehen nicht noch einmal in so wahnsinnig langen Einstellungen. Matteo, mein Kameramann hier, hat die Kamera oft in der Hand gehalten, aber wir wollten nicht das, was man gemeinhin als Wackelkamera bezeichnet. Wir wollten eigentlich sehr klassisch erzählen und auf der inhaltlichen Ebene viel riskieren. Ich wollte mich eher emanzipieren von »Victoria«: dass ich nicht der Typ nur für solche Sachen bin – die Sehnsucht nach dem Hyperrealistischen war erst einmal gestillt.
War es gelegentlich schwierig, die beiden Ebenen, die sich entwickelnde Freundschaft und die Flüchtlingsproblematik im Hintergrund, auszutarieren? Ist dabei einiges auch erst im Schnitt entstanden?
Im Schnitt nicht. Aber dadurch, dass wir recherchiert haben, dass wir hingegangen sind und mit Migranten gesprochen haben, ganz besonders in Calais, auch mit den jungen freiwilligen Helfern, die dort arbeiten. Die wichtigsten Entscheidungen bei der Balance zwischen der Leichtlebigkeit jugendlichen Übermuts und der anderen Ebene des Films haben wir auf Drehbuchebene gefällt,
Die freiwilligen Helfer in Calais haben sich selber gespielt?
Zum Teil ja. Die prominenteste Figur ist die Frau mit der Pudelmütze, das ist eine brasilianische Wirtschaftswissenschaftlerin. Ich hatte eigentlich eine Schauspielerin dafür schon besetzt, als ich auf einmal merkte, das geht nicht. Das war ein großer Glücksfall, das sind auch die einzigen Szenen, die improvisiert sind, weil sie gesagt hat, »Nein, ich will jetzt keinen Text lernen.«
Aber bei den Geflüchteten war das nicht möglich oder auch nicht sinnvoll?
Es wäre meines Erachtens sinnvoll und richtig gewesen. Aber der französische Staat macht den Migranten das Leben nicht unbedingt leichter, um es mal milde auszudrücken. Das wenige Geld, das man Komparsen bezahlt, hätten die sehr, sehr gut gebrauchen können. Aber da sie keine Papiere haben, können wir sie offiziell nicht bezahlen. Das hat zu der absurden Situation geführt, dass wir Komparsen aus Paris kommen lassen mussten, die wir so angezogen haben, damit sie genauso aussehen wie die, die hundert Meter weiter in echt unter harten Bedingungen versuchen zu überleben.
Das war auch unabhängig von der französischen Koproduktion, wäre auch nicht gegangen, wenn es eine rein deutsche Produktion gewesen wäre?
Nein, das wollen die einfach nicht, Migranten etwas zu geben ist illegal. Auch wenn Refugees in deutschen Theaterproduktionen auftreten, dürfen die, soweit ich weiß, nicht bezahlt werden. Da ist die Bürokratie schon sehr strikt.
Sie haben hier zum ersten Mal mit einem Ko-Autor gearbeitet. Wie sind Sie auf Oliver Ziegenbalg zusammengekommen?
Olli kenne ich schon ganz lange, seit 10 oder 12 Jahren. Wir haben es beide einfach mal ausprobiert und wussten zunächst nicht, ob es funktioniert – ich habe bis jetzt ja immer allein geschrieben. Ich bin vollkommen begeistert von dieser Partnerschaft.
Sie saßen zu zweit in einem Raum, die Computer miteinander verbunden?
Nein; den Akt des Schreibens macht man dann doch eher alleine. Das Wichtigste ist das Erzählen, das Miteinander reden, das Hin- und Herwerfen von Ideen und Fragen, miteinander skeptisch sein und sich verunsichern.
Das heißt, als Sie Ihre Zusammenarbeit begann, war noch wenig festgezurrt? Ich stelle es mir schwer vor für einen Ko-Autoren, wenn schon ganz viel festgelegt ist.
Es gab schon ein Konzept, von dem ich ihm erzählt habe, aber das funktioniert nur, wenn man auf Augenhöhe arbeitet.
Haben Sie dabei festgestellt, dass Sie unterschiedliche Gewichtungen setzen – dass etwa der Eine mehr an den Charakteren feilt, der andere mehr an der Struktur?
Nicht wirklich. Ich weiß gar nicht, ob wir uns so sehr voneinander unterscheiden. Wir mögen vielleicht von verschiedenen Ansatzpunkten kommen, aber wir sind von den gleichen Dingen begeistert und überzeugt.
Gab es dabei auch mal Auseinandersetzungen über einzelne Punkte, die einen ausführlicheren Gesprächsbedarf notwendig machten?
Der Schluss – das war aber kein Problem zwischen Olli und mir, wir sind vielmehr über dieselben Dinge verzweifelt: dass wir nicht wussten, wie wir der Tragödie in Calais filmisch angemessen begegnen. Am Ende wird der Film ja fast dokumentarisch erzählt, da fangen meine Filmfiguren an, sich in eine Lebenswirklichkeit hinein aufzulösen, als wenn sie in ein großes Wimmelbild hineintreten: zwei, denen wir die ganze Zeit ganz nah waren, gehen von uns weg in ein Gesamtgemälde, wo sie nur zwei von vielen sind.
Was ist die Voraussetzung, dass man zu zweit gleichberechtigt ein Drehbuch schreiben kann: braucht man denselben Blick auf Geschehnisse?
Ich glaube, dass man sich versteht. Im Prinzip ist es wie mit Spielkameraden früher: es gab Kinder, mit denen man gerne gespielt hat, weil man deren Ideen gut fand und sich mit denen gerne Geschichten ausgedacht hat. Und das ist jetzt hier nicht so anders, man darf nicht unterschätzen, wie viel beim Filmemachen mit dem Erlebnis des Spielens zusammenhängt. Ein Spiel heißt ja im Prinzip, eine Geschichte erzählen, ob mit seinen Legosteinen oder im Garten.
Haben Sie das Drehbuch gleich auf Englisch geschrieben?
Ja, ich kann ganz gut Englisch – ein Freund in den USA hat es dann gelesen. Aber natürlich bin ich auch mit Fionn die Dialoge durchgegangen.
Wie war die Reaktion bei der Weltpremiere in Tribeca? Ich vermute, in den USA verknüpft man refugees eher mit der mexikanische Grenze. War »Roads« für die Amerikaner weit weg oder haben sie im Gegenteil gesagt, »just like here«?
Das ist ja immer so eine Überhöhung, weil es in einem anderen Kontext stattfindet. Im Endeffekt geht es darum, ist es gut erzählt? Für den amerikanischen Markt ist es natürlich ein kleiner Film, er wird auf dem Filmmarkt in Cannes noch einmal angeboten, aber wieweit es gelingt, dass er dort ins Kino kommt, ist eine Frage. Das ist »Victoria« auch nicht wirklich gelungen – die Amerikaner kennen den eher von Netflix, wo er zu einer Zeit angeboten wurde, als dieser Dienst noch klein und chaotisch war; im Kino war er nur kurz zu sehen. Aber auch »Absolute Giganten« hat damals im Kino nicht viele Zuschauer gehabt. Der hat dann davon profitiert, dass die DVD Ende der neunziger Jahre auf einmal so richtig angezogen hat. Der hat seine Karriere in diesem Medium gemacht.
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