goEast 2019
Gewinner der Goldenen Lilie: »Acid« (Kislota, 2018)
Das goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films stellt Anforderungen an den Zuschauer. Und es lohnt sich: In diesem Jahr zeigte es, was das Kino der Serie voraus hat – poetische Verdichtung
Eines findet man auf dem goEast-Festival eher selten: Feelgoodmovies. Wer jedoch statt auf Zerstreuung und postmoderne Metafilme Lust auf nicht konfektioniertes Kino hat, wird auf dem Festival des mittel- und osteuropäischen Films mit Entdeckungen belohnt. Übergreifendes Thema des 19. goEast-Festivals in Wiesbaden bildete die vielfältige Infragestellung traditioneller Rollenvorstellungen. »Strip and War«, eine dokumentarische Studie aus Weißrussland, die in der Kategorie Dokumentarfilm den FIPRESCI-Preis gewann, beobachtet den Alltag eines steinalten Kriegsveteranen. Mit Orden und Uniform steht er für ein archaisches Männlichkeitsbild. Sein Enkel, mit dem er sich eine beengte Plattenbauwohnung teilt, entstellt dieses hehre Ideal bis zur Kenntlichkeit: Wenn der körperbewusste Stripper mit Waschbrettbauch auf der Bühne zeigt, was ein »Mann« ist, reagieren Frauen im Publikum mit einem genügsamen Grinsen.
Eine ähnliche Rollenumkehr beobachtet Alisa Kovalenkos »Home Games«. Der mit dem Preis des Auswärtigen Amtes für Kulturelle Vielfalt ausgezeichnete Dokumentarfilm porträtiert eine zweifache Mutter, die es mit unbändigem Willen als Profifußballerin bis ins ukrainische Nationalteam schafft. Ihr Gatte hängt derweil betrunken in der gemeinsamen Plattenbauwohnung ab.
Warum traditionelle Geschlechterverhältnisse ein Auslaufmodell zu sein scheinen, zeigt »The Gentle Indifference of the World«. Der kasachische Film von Adilkhan Yerzhanov, der den Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie erhielt, erzählt von einem unkonventionellen Paar, das die literarische Vorliebe für Albert Camus teilt, aber dennoch nicht zueinanderfindet. Während sie sich zwecks Tilgung väterlicher Schulden prostituieren muss, verheddert ihr Freund sich im Netz aus Korruption und organisiertem Verbrechen: ein etwas anderes Liebesdrama, das durch glaubhafte Figuren, staubtrockenen Humor und betörend schöne Bilder überzeugt.
Mit »The Riddle of Jaan Niemand« blieb einer der interessantesten Filme des Festivals ohne Auszeichnung. Die grandios inszenierte Fantasydystopie des estnischen Regisseurs Kaur Kokk knüpft an die hypnotische Qualität des Vorjahressiegers November seines Landsmannes Rainer Sarnet an. Estland produziert zwar nur sechs Filme pro Jahr. Aber die haben es in sich.
Die Entdeckung des Festivals ist »Acid«. Mit unglaublicher Intensität taucht das Regiedebüt des 26-jährigen russischen Schauspielers Aleksandr Gorchilin in das Beziehungsgeflecht dreier junger Männer aus Moskau ein, die einander auf tragische Weise verfehlen. Nach dem Tod des gemeinsamen Freundes Vanya, der im Acidrausch vom Balkon sprang, wird die Freundschaft zwischen Petya und Sasha auf eine harte Probe gestellt. Diese Krise kulminiert um das im Titel benannte Motiv der Säure, die sich wie ein Tagtraumbild durch den Film ätzt, buchstäblich: Petya besucht das Atelier eines angesagten Bildhauers, der Figuren seines Vaters, eines Künstlers, der im Stil des sozialistischen Realismus arbeitete, mit Säure zersetzt. Nach einer eher lustlosen Heteroorgie nimmt Petya einen kleinen Schluck dieser Säure und verletzt sich den Mund.
Was es mit der Säure am Ende auf sich hat, wird erst nach und nach klar in diesem Film, der aus der Perspektive von Sasha erzählt wird. Der vaterlos aufgewachsene junge Mann wird von seiner Helikopter-Großmutter umsorgt und von der Mutter im Stich gelassen. Sasha ist ambitionierter Musiker, doch Petya interessiert sich nicht für die Kompositionen des Freundes. In einer langen Aussprache, bei der beide aneinander vorbeireden, wird eine Liebesgeschichte erahnbar, deren Unterschwelligkeit die Situation von Schwulen im homophoben Russland widerspiegelt. Dass Petya sich für einen Bekannten als Taufpate engagiert, empfindet Sasha als Verrat. Er begibt sich in die Kirche, um das Taufbecken heimlich mit Säure zu versetzen: In diesem quälenden Moment fügen sich die Fragmente der artifiziell komponierten szenischen Folge überraschend zu einem Ganzen. Der Zuschauer durchlebt dabei eine kaum auszuhaltende physische Spannung. Die christliche Taufe als Säurebad: Mit dieser motivischen Verdichtung gelingt dem jungen Regisseur ein genuin filmisches »Bild«, wie man es lange nicht gesehen hat. Wer viele Serien schaut und das horizontale Erzählen schätzt, begreift dank »Acid«, was eine poetische Verdichtung im Kino zu leisten vermag. Der Film übt Kritik an einer Kirche, die mit ihrem Sakrament zugleich die sexuelle Orientierung prädeterminiert – Homosexualität ist hier nicht vorgesehen. Der betörend intensive Film überzeugt durch physisch präsente Darsteller und frostige Seelenlandschaften, denen man sich nicht zu entziehen vermag. Zu Recht erhielt »Acid« den Hauptpreis Goldene Lilie.
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