Gegenwart und Vergangenheit – Die 60. Nordische Filmtage Lübeck
»Gegen den Strom« (2018). © Pandora Film Verleih
Bei den 60. Nordischen Filmtagen in Lübeck siegte der isländische Beitrag »Gegen den Strom«
Auf den ersten Blick ist Halla eine warmherzige ältere Dame. Mit ihren 50 Jahren arbeitet sie als Chorleiterin, doch in ihrer Freizeit kämpft sie für eine bessere Umwelt – und gegen die, die sie zerstören. Im Fokus ihres Interesses steht eine Firma, die Aluminium herstellt, und Halla schreckt auch nicht vor gezielten Sabotageakten zurück, sprengt Strommasten in die Luft und schießt auf Drohnen mit einem Bogen. Der isländische Regisseur Benedikt Erlingsson porträtiert in »Gegen den Strom« (Kona fer i strid) seine Protagonistin aber nicht bierernst, sondern mit schalkhaftem Humor. Dafür konnte er bei den Nordischen Filmen insgesamt vier Preise einheimsen, darunter den Hauptpreis für den besten Film – soviel Preise für einen Film gab es noch nie in Lübeck. Und es war auch ein Indiz für einen starken Jahrgang im kleinen Filmland Island, denn es liefen noch das harte Drogendrama »Lass mich fallen« und die Leidensgeschichte einer alleinerziehenden Mutter, »Atme ganz normal«.
Die Nordischen Filmtage in Lübeck, weltweit das größte Festival für Filme aus Skandinavien und den baltischen Ländern, feierten in diesem Jahr ihr 60. Jubiläum mit einem äußerst vielfältigen und facettenreichen Wettbewerbsprogramm, das schwergängige Werke ebenso wie Publikumsfilme beinhaltete. Aber es gab 2018 auch andere Jubiläen zu feiern: Vor hundert Jahren deklarierten Finnland und die drei baltischen Länder Lettland, Litauen und Estland zum ersten Mal ihre Unabhängigkeit.
Es war deshalb vielleicht kein Wunder, dass einige Filme aus diesen Regionen sich mit der Vergangenheit beschäftigten. Der estnische Wettbewerbsbeitrag »Die kleine Genossin« (Seltsimees laps) blickt in die frühen fünfziger Jahre zurück, in die Willkür der späten Stalin-Zeit. Die Mutter der sechsjährigen Leelo, eine Lehrerin, wird verhaftet, weil man in ihrem Haus eine estnische Fahne gefunden hat. Und weil sie vor ihrer Abreise zu ihrem Kind sagt, dass sie bald zurück käme, wenn es brav sei, führt das bei dem Mädchen quasi zu einer Überidentifikation mit dem System. Sie singt Revolutionslieder, während die Kumpels des Vaters Spottlieder auf die Russen brummen. »Die kleine Genossin« ist das Spielfilmdebüt von Moonika Siimets, aber professionell und stimmig in Szene gesetzt, sicherlich einer der Höhepunkte des Festivals. Immerhin hat der Film den erstmalig vergebenen Preis des Freundeskreises für das beste Spielfilmdebüt gewonnen.
In der Zeit nach dem Ende des finnischen Bürgerkriegs 1918 spielt »Lach oder Stirb« (Suomen hauskin mies) von Heikki Kujanpää. Mit Hilfe deutscher Truppen haben die Rechten gewonnen und die sozialistischen Kämpfer in Lager interniert. Einer von ihnen ist Parikka, und er soll nun für einen deutschen General zusammen mit seiner Truppe eine Komödie aufführen – ansonsten wird das verhängte Todesurteil vollstreckt. Die Aufführung gerät zu einer derben Groteske, doch die Deutschen amüsieren sich. Und etwas grobhumorig ist auch diese Tragikomödie geraten.
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit war überhaupt ein großes Thema des diesjährigen Wettbewerbs. »Ted – Alles aus Liebe« (Ted – For Karlekens Skull) von Hannes Holm ist ein Biopic über den schwedischen Popsänger Ted Gärdestad, der in den siebziger Jahren in seinem Heimatland so bekannt war wie ABBA. Der dänische Beitrag »Christian IV – Die letzte Reise« (Christian IV – Den sidste reise), der mutigste Film des Wettbewerbs, spielt fast ausschließlich in einer Kutsche, eine Konversation zwischen dem Dänenkönig und seiner früheren Frau Kirsten Munk, die er über Jahrzehnte eingesperrt hatte, weil er sie des Ehebruchs verdächtigte. In Rückblenden enthüllt sich die Geschichte der beiden, und immer wieder fließen Gegenwart und Vergangenheit ineinander. Nur in Großaufnahmen erzählt Kasper Kalle seinen Film, doch gerade der enge Innenraum der Kutsche wird zu einem Schlachtfeld der Leidenschaften. Und »Vor dem Frost« des dänischen Regisseurs Michael Noers ist ein hartes Sozialdrama, das von der Not einer Bauernfamilie im 18. Jahrhundert erzählt.
Einer der schönsten Filme des Wettbewerbs ging leider am Schluss leer aus. »Ein unbekannter Meister« (Tuntematon mestari) handelt von einem alten Galeriebesitzer, der noch einmal einen großen Coup landet, als er in einem Aktionshaus preiswert ein Gemälde des russischen Malers Ilja Repin ersteigert. Einfühlsam fängt der finnische Regisseur Klaus Härö das Leben und die Rituale des alten Mannes ein, und stimmungsvoll hat sein Kameramann Tuomo Hutri das in Bilder übersetzt, die aussehen, als wären sie selbst von einem alten Meister gemalt worden.
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