15. Crossing Europe-Filmfestival in Linz
»Soldiers. Story from Ferentari« (2017)
Das 15. Crossing Europe-Filmfestival in Linz bot einmal mehr spannende Grenzübertritte und herausragende Entdeckungen
»Wie schön haben es die in Europa mit ihrem Schengen«, hört man an einer Stelle in Alexandru Solomons Dokumentarfilm »Tarzan's Testicles« einen Abchasen klagen. Das kleine Volk an der östlichen Schwarzmeerküste verteidigt seit 25 Jahren seine Unabhängigkeit von Georgien, wird als eigenständige Republik aber bislang nur von Russland, Nicaragua und Venezuela anerkannt. Dementsprechend schwierig ist die Visumslage und mithin die Aussicht zu reisen. Der Rumäne Solomon stellt ins Zentrum seines Films ein in den 20er Jahren in Suchumi, der Haupstadt Abchasiens, gegründetes Forschungsinstitut, in dem Experimente mit Primaten und Affen durchgeführt wurden und werden. Rund um die heruntergekommene Anlage nimmt Solomon weniger eine Kuriosität der Wissenschaft ins Visier als vielmehr das seltsame Aus-der-Zeit-Gefallen-Sein eines Landstrichs, in dem sich paradiesische Schönheit mit morbidem Verfall verbindet. Von hier aus gesehen ist Europa trotz Terrornachrichten und Flüchtlingskrise immer noch eine schöne Idee.
Crossing Europe ist Name und Konzept des Filmfestivals in Linz, das Leiterin Christine Dollhofer vor 15 Jahren gegründet hat, und man staunt, mit wie viel Sinn und Spannung die Devise jedes Jahrs aufs Neue aufgeladen wird. Junge, unabhängige und eigensinnige Filme aus den verschiedensten Ecken Europas treffen hier aufeinander und bilden überraschende und augenöffnende Zusammenhänge. Wie etwa zwei sehr unterschiedliche Varianten des Romeo-und-Julia-Themas, also Paare, die nicht zueinander finden können. Im rumänischen »Soldiers. Story from Ferentari« von Ivana Mladenovic ist das ein Kulturwissenschaftler, der für seine Doktorarbeit über Roma-Musik in eines der ärmsten Viertel von Bukarest zieht und dort prompt eine Affäre mit seiner Hauptquelle beginnt, einem Roma und Kleinverbrecher. Beide Männer sind nicht mehr ganz jung, beide behaupten von sich, nicht schwul zu sein, was die dramatische Dynamik ihrer Beziehung aber keineswegs schmälert. Beide Männer leben prekär und sind einsam, aber ihr verschiedener Bildungsstand lässt sie Armut und Ausgegrenztsein völlig unterschiedlich erleben. Mit fast dokumentarischer Haltung zeichnet Mladenovic die gesellschaftlichen Nahtstellen auf, bleibt dabei aber immer nahe an den Gefühlen ihrer verschrobenen Männergestalten. Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt Blerta Zeqiri in »The Marriage«, auch hier besteht das Paar, das nicht zusammenkommen kann, aus zwei Männern, und auch hier wird Soziologie und Politik in Gefühlen lebendig. Als der Kosovare Bekim seine Hochzeit mit Anita plant, reist sein Jugendfreund Nol aus Paris an, vorgeblich um ihm beizustehen, in Wahrheit jedoch für einen letzten Versuch, den langjährigen heimlichen Liebhaber dazu zu überreden, sich endlich zu bekennen. Was plakativ sein könnte, kommt bei Zeqiri verhalten und sensibel daher; ihr Film fordert den Figuren keine heroischen Wendungen ab, nur damit sich der Zuschauer besser fühlt.
Wie anders die Welt aussieht, wenn man sie nicht durch die Brille der Nachrichten, sondern der Individuen und ihrer Gefühle betrachtet, belegt auch der in Teheran geborene und in Schweden aufgewachsene Milad Alami in »The Charmer«. Sein Titelheld ist Esmail, ein iranischer »Migrant«, der in den Bars von Kopenhagen auf Frauensuche geht, mit dem Ziel, sich einen Bleibestatus zu sichern. Doch statt in eine Dänin verliebt er sich in eine Landsmännin, die ihn noch dazu durchschaut. Esmail mag kein sympathischer Held sein, aber Alami und sein großartiger Hauptdarsteller Ardalan Esmaili verleihen ihm eine so exakte psychologische Kontur, dass man als Zuschauer kaum anders kann als Empathie zu empfinden.
Crossing Europe – ein Film des lokalen Programms nahm dies besonders wörtlich. Für ihr »European Grandma Project« hat die Linzerin Alenka May sich mit weiteren acht Regisseurinnen für Porträts ihrer jeweiligen Großmütter zusammengetan. Von Island geht es hier nach Griechenland, von Italien nach Russland, Israel, Großbritannien, Bulgarien und in die Türkei. Die Großmütter sind in den Jahren von 1924 bis 1936 geboren, und im wilden Länderhopping erweisen sie sich als rare Quelle für europäische Geschichte. Wie man nicht zuletzt den Bemerkungen zu Familien- und Sexualleben entnehmen kann, sind die alten Frauen vor allem auch Zeuginnen dafür, wie ähnlich sich die Kulturen von Island bis Israel letztlich doch wieder sind.
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