Filmfestival von Venedig: Löwen sind keine Oscars
»Three Billboards Outside Ebbing, Missouri« (2017). © 20th Century Fox
Statt das Scheinwerferlicht auf Entwicklungen der Filmkunst zu richten, dient die »Mostra« mittlerweile häufig als Startrampe für das Oscar-Rennen. Bei der Löwenvergabe ist allerdings eine trotzige Haltung gegen das Kommerzkino erhalten geblieben
Die Frage, welche Filme sich am Ende des 74. Filmfestivals von Venedig Chancen auf die Oscars ausrechnen können, wird fast heißer diskutiert als die nach dem Favoriten auf den Goldenen Löwen. Ein Blick auf die Preisvergabe am Lido im vergangenen Jahr zeigt allerdings, dass es eher selten die gehypten Oscarkandidaten sind, die hier ausgezeichnet werden. Den Goldenen Löwen 2016 etwa erhielt der fast vierstündige Schwarz-Weiß-Film »The Woman Who Left« des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. Zwar gewann auch Emma Stone für ihren Auftritt in »La La Land«, aber der Großteil der Preise ging an entschiedenes Nischenkino.
Diese fast trotzige Neigung, bei der Löwenvergabe immer auch ein Zeichen gegen das Kommerzkino zu setzen, hat Tradition in Venedig. Es erscheint durchaus möglich, dass mit Abdellatifs Kechiches »Mektoub, My Love: Canto Uno« erneut ein Dreistünder mit entsprechend unwägbaren Aussichten bei der Kinoauswertung gewinnt. Der französische Regisseur (»Blau ist eine warme Farbe«) erzählt die Geschichte eines Sommers und seiner Sehnsuchts- und Liebesverstrickungen mit so viel eigener Atmosphäre und Unmittelbarkeit, dass es den Zuschauer fast körperlich mitnimmt: Die Handlung ist Anfang der 90er Jahre an der französischen Mittelmeerküste angesiedelt, wo eine Gruppe junger Erwachsener von größtenteils tunesischer Abstammung ihre Ferien verbringen. Kechiches Film verfügt mit der Schönheit und Jugend seiner Darsteller – vor allem dem deutlich ins Bild gesetzten Sex Appeal seiner Schauspielerinnen – trotz Länge über gut »vermarktbare« Aspekte.
Die weitaus radikalere Entscheidung für den Goldenen Löwen, unter dem Jury-Vorsitz der amerikanischen Schauspielerin Annette Bening durchaus vorstellbar, wäre der neue Dokumentarfilm »Ex Libris – The New York Public Library« des 87-jährigen Regieveteranen Frederick Wiseman. Mit 197 Minuten Laufzeit ist auch dies alles andere als ein »leicht zugänglicher« Film. Für die, die sich der Anstrengung stellen, entpuppt sich Wisemans Film aber als eine Hymne auf das Wissen und die menschliche Neugier – und damit als völlig würdiger Kandidat für die Auszeichnung. Verglichen mit »Ex Libris« erscheint Ai Weiweis zweistündige Flüchtlingsdoku »Human Flow« mit ihrer humanistischen Botschaft und den vielen schönen Bildern geradezu als kommerzielles Unternehmen. Sein brandaktuelles Thema setzt ihn trotzdem auf die Favoritenliste.
Darüber hinaus gibt es im diesjährigen Wettbewerb viele Filme, die die goldenen Mitte aus aktuell und Arthouse treffen, ohne den Zuschauer zu sehr zu fordern: »The Insult« etwa thematisiert die offenen Wunden der libanesischen Post-Bürgerkriegsgesellschaft in einem packenden Filmdrama – mitreißend, spannend und gut gespielt. Oder auch der Gerichtsfilm »The Third Murder« des japanischen Regiemeisters Hirokazu Koreeda, der das Sujet Todesstrafe mit der ungewöhnlichen Geschichte eines Mörders angeht, der sein Geständnis immer wieder ändert.
Im israelischen »Foxtrot« wiederum bringt Samuel Maoz die bittere Ironie des Schicksals auf die Leinwand: Ein Vater erhält die Nachricht vom Tod seines Sohns in der Armee. Später zeigt sich, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. Nicht zuletzt gelingt es dem Australier Warwick Thornton mit seinem westernhaften »Sweet Country« vom rassistischen Erbe des Kontinents zu erzählen und dabei endlich einmal Aborigines und weiße Siedler als Figuren ebenbürtig zu behandeln.
Welche Filme haben sich nun fürs Oscar-Rennen qualifiziert? Eine ganze Reihe an Stars kann fortan mit dem Rückenwind ihrer Venedigpremieren rechnen: Frances McDormand konnte ihre Favoritenrolle in »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri« mit reichlich Applaus unterstreichen, genau wie Donald Sutherland und Helen Mirren als Senioren auf einem letzten Roadtrip im sonst eher mittelmäßigen »Leisure Seeker« oder Judy Dench als Königin Victoria im gemächlichen »Victoria & Abdul«. Mit Andrew Haighs Coming-of-Age-Film »Lean On Pete« könnte sich Charlie Plummer (»Boardwalk Empire«) als Erbe US-Schauspielers River Phoenix etablieren. Und in Paul Schraders »First Reformed« beweist Ethan Hawke als Pfarrer in einer Gewissenskrise, dass er nicht nur Berufsjugendliche sondern auch erwachsene Männer spielen kann.
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