Die anstößige Frau: Nachruf auf Jeanne Moreau
Jeanne Moreau in »Fahrstuhl zum Schafott« (1958)
An einem Samstagnachmittag im Sommer 1962 führte Joseph Losey in Cinecittà einem kleinen Kreis von Freunden die erste Schnittfassung von »Eva« vor. Sein Star Jeanne Moreau war darunter, ebenso ihr damaliger Lebensgefährte Pierre Cardin und der amerikanische Regisseur Robert Aldrich. Als das Licht im Vorführraum wieder anging, brach Loseys Kollege in verblüfftes Gelächter aus. Noch nie habe er einen Film gesehen, meinte Aldrich, dem so deutlich anzumerken war, wie sehr der Regisseur in seine Hauptdarstellerin verliebt sei.
Losey korrigierte ihn: Er sei in sie als Schauspielerin verliebt. Für Jeanne Moreau und ihre Regisseure war das Filmemachen stets ein vieldeutiges Liebesabenteuer. »Von allen menschlichen Beziehungen«, sagte sie einmal, »ist keine heftiger als die zwischen einem Regisseur und seinen Schauspielern.« Dabei war sie niemals nur Instrument, sondern eine inspirierende, entflammbare Komplizin. Luis Bunuel schrieb in seinen Lebenserinnerungen, von ihr habe er mehr über die Titelfigur von »Tagebuch einer Kammerzofe« erfahren, als er je geahnt hätte. Sie war getrieben von Neugierde und der Lust, sich zu verausgaben. Die Schauspielerei war für sie nicht Verstellung, sondern Erleben. Ihre eigenen Regiearbeiten, »Im Scheinwerfer«, »Mädchenjahre« sowie ein Porträt von Lilian Gish, verraten tiefen Respekt vor ihren Kolleginnen.
Projekte wählte sie meist nach den Regisseuren aus und ließ dabei kaum einen der Großen des Autorenfilms aus. Sie spürte eine Verantwortung in sich, die über die Rollen hinausging (in den 1990er Jahren war sie Präsidentin der französischen Filmförderung). Als Darstellerin war sie ohnehin eine Mitautorin ihrer Filme. Dieser kreative Eigensinn schrieb sich unmittelbar in ihre Rollen ein. Oft wurde sie als ein gebieterisches Kraftzentrum inszeniert. Im Vorspann von Roger Vadims »Gefährliche Liebschaften« gleitet die Kamera über ein Schachbrett und hält bei der Figur der Königin inne, als Moreaus Name eingeblendet wird. Sie verhängt einen Bann über die Männer, die ihr in »Jules und Jim«, »Eva« und »Die blonde Sünderin« begegnen, weist ihnen die Rolle der nurmehr Reagierenden zu. Ihre Launen, ihre Unruhe, ihr emotionaler Pragmatismus diktieren das Lebenstempo ihrer Partner.
Zeit ihrer Karriere erweckte sie den Eindruck, allein über ihr Image zu bestimmen. Dabei folgte ihre Filmographie keiner planvollen Strategie, sondern kluger Intuition. Blutjung war die Tochter eines Gastronomen und einer englischen Tänzerin, als sie die Begeisterung fürs Theater entdeckte. Noch bevor sie die Ausbildung am Konservatorium beendet hatte, engagierte Jean Vilar sie 1947 für das erste Festival von Avignon. Gleich darauf debütierte sie an der Comédie francaise und wurde zur jüngsten festangestellten Schauspielerin. Bald holte sie Vilar an sein Theatre National Populaire, wo sie neben Gérard Philippe vor allem im klassischen Repertoire brillierte; erst nach ihrem Erfolg als Maggie in »Die Katze auf dem heißen Blechdach« entdeckte sie auch Gegenwartsautoren, mit denen die leidenschaftliche Leserin oft enge Freundschaften einging.
Seit 1948 arbeitete sie unablässig im Kino. Aber ein Filmstar wurde sie erst mit der Nouvelle Vague, deren Aufbruchstimmung ihrem eigenen Wagemut entgegenkam. Jenseits des rebellischen Sexappeals einer Brigitte Bardot und der tragischen bürgerlichen Konformität einer Michèle Morgan schuf sie Ende der 50er Jahre ein neues Rollenbild. Sie verkörperte die aufbegehrende, anstößige Frau, für die die Liebe den Ausbruch aus der verantwortungsvollen bourgeoisen Existenz bedeutet. Damit setzte sie auch ein neues Schönheitsideal durch, das ohne viel Schminke auskam. Als sie mit Louis Malle nachts die ersten Szenen von »Fahrstuhl zum Schafott« auf den Champs-Elysées drehte, wurde sie nur vom Licht der Schaufenster beleuchtet: Malles Kameramann Henri Decae verzichtete auf künstliches Licht, weil sie von innen heraus strahlte. Die Techniker beschwerten sich, sie würden Moreau zerstören. Aber was konnte diese Schauspielerin schon zerstören?
Das nächtliche Flanieren in »Fahrstuhl zum Schafott« ist zum Urbild ihrer Kinofigur geworden. Es weist sie als moderne Frau aus, die den öffentlichen Raum in Besitz nimmt. Auch in »Die Nacht« von Michelangelo Antonioni und in Peter Brooks »Stunden der Zärtlichkeit« gibt es solche Streifzüge von Gestrandeten, die ausscheren wollen aus den vorgeschriebenen Bahnen. Dem Erlebnishunger der Figuren, ihrem Wunsch an der Teilhabe am Leben der anderen ist freilich das Wissen um das Scheitern schon eingeschrieben. Nichts ist greifbar und gewiss, sie erbeutet nur ungeordnete Fragmente des Lebens. Immer wieder kommt es bei diesem melancholischen Flanieren zu einem Innehalten, dem Verlangen, sich an eine Wand oder einen Baum anzulehnen, erschöpft von einer existenziellen Müdigkeit. Dies Irrlichtern schillert zwischen Ennui und der Trauer darüber, wie trist die Geschlechterverhältnisse eingerichtet sind.
Aber Moreau stattete ihre Figuren mit einer gepanzerten Verletzbarkeit aus. Ihr Ausdrucksspektrum war weit gesteckt. In »Jules und Jim« wirkt sie zunächst wie eine temperamentvolle Komödiantin, lässt den Überschwang dann jedoch allmählich in ein tragisches Getriebensein münden. Ihr Gesicht wird dabei unweigerlich zu einer Maske. Ständig wünschte man sich, das Lächeln der wehmütig vollen Lippen würde länger anhalten. Aber in ihren Filmen bleibt es stets knapp: eine höflich vertröstende Strategie, um verschmähte Liebhaber abzuschütteln, ein Schutzschild gegen die Anfechtungen des Lebens.
Francois Truffaut inszenierte sie in »Jules und Jim« und »Die Braut trug schwarz« als ein bedrohliches Mysterium: wohl wissend, dass sie den Zuschauer stets zur Distanz ermahnt. Kaum eine andere Schauspielerin wurde so oft durch Glasscheiben gefilmt. Dingfest ließ sie sich nie machen. Sie lud nicht ein zur simplen Identifikation, sondern faszinierte den Zuschauer als ein Rätsel. Selbst wenn sie sich zu offenbaren schien, wahrte sie das Geheimnis ihrer Figur. Und ihr eigenes.
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