59. Nordische Filmtage Lübeck: Kammerspiele
»Träum weiter« (2017)
200 Filme, über 32.000 Zuschauer, zum ersten Mal eine kleine Kuppelkonstruktion für interaktives Kino und Rundumfilme – die 59. Nordischen Filmtage in Lübeck waren ein voller Erfolg
Man konnte in Lübeck den Eindruck gewinnen, dass die traditionsreiche Veranstaltung auch deshalb aus den Nähten platzte, weil selbst sperrigste Filme beim Publikum auf größtes Interesse stießen. Schon der Eröffnungsfilm war klug gewählt. »Träum weiter« von Rojda Sekersöz aus Schweden folgt einer Clique junger Frauen aus einem heruntergekommenen Stadtviertel Stockholms, die zwischen Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlten Jobs und ziellosem Herumhängen versuchen, ihren Alltag zu organisieren, die Grenze zur Kriminalität streifend, und trotzdem so etwas wie unklare Träume oder Wünsche umzusetzen. Sehr kraftvoll verleihen die Darstellerinnen den Protagonistinnen eine trotzige Widerständigkeit und Lebendigkeit, die auch für randständige Lebensweisen Respekt einfordert. Wie selbstverständlich fügen sich unterschiedliche kulturelle und ethnische Hintergründe zu einem Bild schwedischer Gemeinsamkeiten zusammen.
Wenn man dieses Jahr eine Art ästhetischen Schwerpunkt feststellen wollte, so wäre dies die Häufung von kammerspielartigen Filmen. Etwa der sehr lebendig wirkende »Ein Augenblick im Schilf« von Mikko Makela aus Finnland. Ein junger Mann, in Paris promovierend, versucht, zusammen mit seinem Vater, zu dem er offensichtlich eine schwierige Beziehung unterhält, und einem Flüchtling aus Syrien, das Sommerhaus am See zu renovieren. Bei einer beruflich bedingten Abwesenheit des Vaters kommen sich die beiden jungen Männer (auch erotisch) näher. Die scheinbare Seeidylle befördert einerseits die zarte Beziehung, aber auch die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven. Ein kleines absurdes Theaterstück ist »Das Ende der Kette« von Priit Pääsuke aus Estland. In einem Fastfoodrestaurant, das am Ende des Tages endgültig geschlossen wird, treffen sich verschiedene Personen, um über die unterschiedlichsten Dinge zu sprechen, hinter denen deren Wünsche nach menschlichen Beziehungen sichtbar werden. Die Gespräche scheitern fast immer, worauf auch der Titel hinweist. Das Skizzenhafte und Artifizielle der Konstruktion, die dezente Kinematografie und die zurückhaltend agierenden Schauspieler lassen den Zuschauer das Spiel akzeptieren.
Kontroversen wird der dänische Film »Eine fürchterliche Frau« von Christian Tafdrup auslösen. In kleinen Szenen des Alltags skizziert der Film eine Paarbeziehung, in der die Frau unterschwellig Situationen so strukturiert, dass sie dominiert. Die Räume des Mannes werden subtil eingeengt, Widerstand ist aufgrund des Indirekten schwierig. Prägnant gespielt, mit präzisen Dialogen, wird Diskussionsstoff in Sachen Beziehungsgestaltung geliefert. Den Preis des NDR gewann die dänisch-schwedische Koproduktion »Der Charmeur« von Milad Alami, der von den Versuchen eines iranischen Immigranten erzählt, eine dänische Ehefrau zu finden, um das Aufenthaltsrecht zu erhalten. Auch wenn der ökonomische Hintergrund immer im Bewusstsein bleibt, hat der Film die Instrumentalisierung von Beziehungen im Visier. Die Schädigung des Protagonisten als auch der Frauen wird deutlich. Ein Sichöffnen ist den Personen kaum möglich. Die detailreiche Inszenierung und das souveräne Spiel der Darsteller machten die Auszeichnung beinah unausweichlich.
Der interessanteste Film lief aber außerhalb des Wettbewerbs. »November« von Rainer Sarnet aus Estland, der als Special Event gezeigt wurde. Ein SchwarzWeiß-Film nach einem Roman, der auf Märchen- und Sagenmotive zurückgreift. Menschen in einer archaisch anmutenden Landschaft, die sehr real mit den Toten, Dämonen und dem Teufel leben. Ein karges Leben mit extrem harter Arbeit, in der Liebe und Begehren es nur schwer haben, auch wenn man zu magischen Mitteln greift. Zentrum des Films bildet eine junge Frau, die einen jungen Mann liebt, der seinerseits offensichtlich unerreichbar die schlafwandelnde Tochter des herrschenden Adligen liebt. Der wiederum scheint selbst in einer anderen Sphäre zu leben. Auch der Einsatz der magischen Mittel hilft keinem. Das Magische ist nicht nur Befreiung, sondern auch Lähmung. Der Film zeigt das nicht als Tragödie, sondern mit begeisternder bildlicher Phantasie als eine fremde Welt, in der besten Tradition des fantastischen Stummfilms.
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