Gespür für Locations: Wolf Suschitzky
In Deutschland hat man seinen Tod kaum zur Kenntnis genommen, ganz anders in Österreich; in seiner Geburtsstadt Wien war er in den letzten Jahren häufiger zu Gast, vor allem dank der Bemühungen von Michael Omasta und Brigitte Mayr, der Filmforscher von "Synema", die drei Fotobände mit seinen Werken veröffentlichten.
Aus Anlass seines 100. Geburtstags richtete ihm die Viennale 2012 einen Tribute aus, Suschitzky stellte sich dem Publikum zuerst im Literaturhaus, wo eine hundertminütige Showreel die ganze Bandbreite seiner Arbeit als Kameramann zeigte, und am nächsten Abend auf der Bühne des Kinos im Künstlerhaus, wo er sich, nach der Vorführung von »Get Carter«, eine Stunde lang im Gespräch mit Michael Omasta als ebenso wacher Beobachter wie als bescheidener Mensch zeigte. Erlebte Filmgeschichte – zwei große Abende für alle, die dabei waren.
Geboren 1912 in einem Wiener Arbeiterbezirk mit sozialdemokratischen, weltlich orientierten jüdischen Eltern, teilte er das Interesse für Fotografie mit seiner vier Jahre älteren Schwester Edith und absolvierte eine Ausbildung an der Graphischen Versuchsanstalt. Das älteste überlieferte seiner Fotos entstand ca. 1930 im Prater (zu sehen in dem 2014 erschienenen Band »Wolf Suschitzky: Seven Decades of Photography«), seine letzten Aufnahmen stammen aus den Jahren 2000 (Sri Lanka) bzw. 2001 (Amsterdam).
Geprägt durch seinen Vater, der in Wien seit 1901 die erste sozialistische Buchhandlung betrieb, war Suschitzky als Fotograf Zeit seines Lebens dem sozialen Realismus verpflichtet, zeigte oft arbeitende Menschen und Straßenszenen, vorwiegend aus London, später auch von seinen Reisen in ferne Länder.
Nach dem Machtantritt der Faschisten in Österreich 1934 emigrierte er über Holland nach Großbritannien, wo seine Fotos von den Buchhändlern in der Charing Cross Road auch ein Tribut an seinen Vater waren, der sich 1934 das Leben genommen hatte.
Seine erste Tätigkeit beim Film ergab sich 1937 als Kameraassistent einer Paul Rotha-Produktion, die im Londoner Zoo gedreht wurde – doppelt passend, denn Suschitzkys erste Liebe gehörte der Zoologie, die ersten beiden Publikationen, die er Ende der dreißiger Jahre in London veröffentlichte, galten der Tier- und der Kinderfotografie. Später konnte er sein Interesse an Tieren als Kameramann von Kinofilmen wie »Ring of Bright Water« (Mein Freund, der Otter; 1969) und »Living Free« (1972) umsetzen.
Neben der langjährigen Arbeit als Dokumentarfilmkameramann zeichnet Suschitzky auch als Kameramann einiger Spielfilme verantwortlich, von denen sich die besten durch ihr Gespür für locations auszeichnen, weitgehend außerhalb der Studios entstanden. Offenbar haben Regisseure ihn gezielt angesprochen, wenn sie diese dokumentarische Qualität in ihren Arbeiten haben wollten. Das gilt für Joseph Stricks ambitionierte James-Joyce-Adaption »Ulysses« (1967), gedreht in Dublin, ebenso wie für die Kinoversion von Joe Ortons Bühnenstück, der schwarzen Komödie »Entertaining Mr. Sloane« (Seid nett zu Mr. Sloane; 1969), und den ikonographischen Gangsterfilm »Get Carter«, mit dem der Regisseur Mike Hodges nach zwei Fernsehfilmen 1971 sein Kinodebüt gab. »Jack rechnet ab« hieß der Film damals in Deutschland, Michael Caine spielt den Londoner Gangster, der ins nordenglische Newcastle reist, nachdem sein Bruder dort zu Tode gekommen ist, und einen Rachefeldzug startet. Die engen Innenräume verlangten Suschitzky einiges an Erfindungsgeist ab, was die Positionierung der Kamera betrifft – kein Problem für jemanden, der »den Ruf hatte, St. Paul's Cathedral mit zwei Lampen beleuchten zu können«, wie er mit berechtigtem Stolz in Wien kommentierte.
Gilt »Get Carter« zumindest in Großbritannien heute als Klassiker, so ist »The Small World of Sammy Lee« (Der Gehetzte von Soho), den Ken Hughes 1962 inszenierte, erst ansatzweise wiederentdeckt (eine restaurierte Fassung als Home Entertainment-Veröffentlichung wird allerdings für November 2016 angekündigt). Sammy Lee (Anthony Newley), Conferencier in einem Nachtclub, bleibt nur wenig Zeit, seine Schulden bei einem Buchmacher zu bezahlen, umso verzweifelter probiert er alle legalen und illegalen Möglichkeiten, Geld aufzutreiben. Es ist das Soho der kleinen, alteingesessenen Geschäfte (oft jüdischer Emigranten), das hier zu sehen ist und das bald von großen und fashionablen Nightclubs verdrängt wurde.
Am 7. Oktober ist Wolf Suschitzky, im Alter von 104 Jahren, in London gestorben. Sein Sohn Peter hat sich ebenfalls einen Namen als Kameramann gemacht, vor allem durch seine regelmäßige Zusammenarbeit mit David Cronenberg.
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