Filmfestival Venedig 2015
»Desde Allá« (From Afar)
72. Filmfestival von Venedig: Ein enttäuschender Wettbewerb als Spiegel einer Kinobranche weniger in der Krise als im Umbruch
Das passende Zitat kam am Schluss. »Be radical, be patient, be free«, mit dieser Aufforderung an seine kleine Tochter zu Hause schloss Regiedebütant Brady Corbet seine Dankesrede bei der Preisverleihung ab. Mehr Radikalität, mehr Geduld und mehr Freiheit – das hätte auch dem 72. Filmfestival von Venedig sehr gutgetan. Stattdessen war das diesjährige Programm gefüllt mit Filmen, die verdächtig oft auf den Thrill einer »wahren Geschichte« setzten, um wichtig zu erscheinen.
Brady Corbets »The Childhood of a Leader«, der in der Reihe Orizzonti lief, bildete eine der raren Ausnahmen. Der Film versetzt den Zuschauer ins Umfeld von Paris nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die Familie eines amerikanischen Präsidentenberaters (gespielt von »Game of Thrones«-Darsteller Liam Cunningham) hat hier eine Villa bezogen, wo die junge Ehefrau (Bérénice Bejo) die meiste Zeit mit ihrem siebenjährigen Sohn (Tom Sweet) und ein paar Bediensteten allein gelassen wird. Im Hintergrund gehen wichtige Dinge vor – Europa wird neu aufgeteilt – aber im Haus laufen durchtriebene Machtkämpfe zwischen dem Siebenjährigen und den Erwachsenen ab. Von »Trotzanfall 1« bis »Trotzanfall 3« teilt der Film seine Kapitel, um dann in einem Nachspiel einen totalitären Aufmarsch in stilistischer Mischung aus Stalinismus und Faschismus zu zeigen, der einem nun erwachsenen Führer zujubelt. Was nach vulgärpsychologischer Herleitung klingt, wird bei Corbet zu einem mysteriösen, verstörenden Spiel mit Atmosphäre und Andeutungen. Wie der siebenjährige Held versteht auch der Zuschauer nicht alles was geschieht, aber es hinterlässt trotzdem tiefe Eindrücke. Obwohl angesiedelt an einem realen Punkt der Zeitgeschichte, ist alles an dieser Story erfunden, aber genau in diesem Zwischenreich von Real und Irreal entsteht eine Suggestion, die zum Nachdenken bringt über den Zusammenhang von Zuwendung und Erziehung, von Anlage und autoritärem Charakter. Weshalb die zwei Preise (den Löwen fürs beste Erstlingswerk und den Regiepreis der Orizzonti-Sektion) für Corbet völlig angemessen erschienen.
Aber natürlich ist nichts prinzipiell gegen die Verfilmung wahrer Geschichten einzuwenden. Sie müssten nur möglichst so sein wie Tom McCarthys »Spotlight«, der außer Konkurrenz lief. »Spotlight« ist konventionelles Kino in jeder Hinsicht. Es geht um die wahre Geschichte der Journalisten des Boston Globe, die vor gut zwölf Jahren das jahrzehntelange, organisierte Geheimhalten der Missbrauchsfälle durch katholische Priester aufdeckten. Der Film ist ganz nach herkömmlichen Mustern erzählt: die Journalisten sind viel arbeitende Helden mit kleinen Charakterfehlern, aber unbedingtem Engagement im Job. Die Besetzung strotzt nur so vor bekannten Namen (Michael Keaton, Rachel McAdams, Mark Ruffalo, Liev Schreiber, Stanley Tucci). Die Handlung bewegt sich geradlinig von A, dem ersten Verdachtsmoment, zu B, dem Erscheinen des alles aufdeckenden Artikels. Aber bei alldem ist »Spotlight« so geschliffen geschrieben, so temporeich und sorgfältig inszeniert, so auf den Punkt gespielt, dass der Film zum Hochgenuss wird. Menschen darzustellen, die ihre Arbeit gut und mit Leidenschaft verrichten, ist eine Spezialität des amerikanischen Kinos, vor allem im Genre des Zeitungsfilms. Bei »Spotlight« kommt die Melancholie einer Hommage an ein aussterbendes Metier hinzu. Der investigative Journalismus, den der Film als wenig glamouröses, aber wichtiges Handwerk zeigt, droht im Internetzeitalter seinen Platz zu verlieren.
Um Wahres im Sinne von »tatsächlich geschehen« ging es auch in Amos Gitais »Rabin. The Last Day«, einem der Kritikerlieblinge des diesjährigen Wettbewerbs, der aber ohne Preis blieb. Gitai versucht darin, den Ereignissen rund um das tödliche Attentat auf den israelischen Premierminister Yitzhak Rabin durch einen orthodoxen Extremisten im Jahre 1995 auf die Spur zu kommen. Statt des Spielfilmformats aber bedient sich Gitai dabei des Reenactments: Er inszeniert die Anhörungen der Untersuchungskommission nach, ergänzt sie um vorhandenes Archivmaterial und um Interviews mit Shimon Peres und Leah Rabin. Was sich zunächst nach einem besseren Fernsehfeature anhört, entfaltet sich im Kino zu einer überraschend fesselnden Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Klima in Israel damals und heute. Zwar kann auch Gitai keine endgültigen Antworten geben, aber statt der immer allzu schlüssigen Version einer Verschwörungstheorie fächert er in seinen nachgestellten Zeugenaussagen die damals vorherrschende Stimmung auf, in der Israels Öffentlichkeit sich über Rabins Bemühungen im Friedensprozess in gefährlicher Weise spaltete. Dass der Attentäter so nah an Rabin herankommen konnte, mag auf das gemeinsame punktuelle Versagen von Polizei und Geheimdienst zurückzuführen sein. Die Inspiration zur Tat aber hat eine lange Vorgeschichte.
Wie anders und formal originell man über tatsächlich Geschehenes im Kino reflektieren kann, zeigte auch Aleksandr Sokurovs essayistische Auseinandersetzung mit den Fragen nach Krieg und Kulturerbe in seinem »Francophonia«. Im Kernstück des Films steht auch hier ein Reenactment: Sokurov imaginiert die aufgeladenen und schwierigen Begegnungen zwischen Jacques Jaujard (Louis-Do de Lencquesaing), dem Louvre-Beauftragten der Vichy-Regierung, und dem von den Nazis in Kunstsachen eingesetzten Grafen Franziskus Wolff Metternich (Benjamin Utzerath). Die Szenen gleichen dabei verblichenen Fotografien, aus denen die Protagonisten auf uns Zeitzeugen von heute zurückblicken. Zwischendurch lässt Sokurov einen Napoleon durch die Gänge des Louvre laufen, der auf alles mit den stolzen Worten »Das habe ich hierhergebracht« zeigt, eine Marianne flüstert dazu: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.« Spielerisch und streng, zwischen Abstrusität und Überzeugungskraft schwankend, ähnelt »Francophonia« eher einem Poem als einem Kinostück.
Manchmal aber liegt das Fiktive und Fantastische sehr viel näher an der Wirklichkeit als die vermeintlich wahre Geschichte. Der Italiener Marco Bellocchio etwa mischte frech und frei in seinem »Sangue del mio sangue« ein düsteres Inquisitionsdrama um eine verführerische Nonne mit einer in der Gegenwart spielenden Gesellschaftssatire, die die Klischees des Vampirfilms aufgreift. Und traf damit präzise ins Herz der italienischen Gegenwart. Der US-Amerikaner Charlie Kaufman wiederum erzählt in »Anomalisa« eine vergleichsweise »naturalistische« Geschichte – nur eben in der totalen Künstlichkeit eines in Stop-Motion-Technik gedrehten Animationsfilms. Ein Motivationsredner reist zu einem Vortrag in eine fremde Stadt. Der drückenden Einsamkeit des Hotels versucht er zunächst durch den Anruf bei einer alten Liebe und später bei einer neuen Bekanntschaft zu entkommen. Der nächste Morgen entlarvt die nächtlichen Euphorien als Illusion . . . Mit seinem Midlife-Crisis-Thema und einer sehr »realistischen« Sexszene ist Anomalisa eine bestrickende Mischung aus hyperrealen Elementen – die Texturen der Räume und Kostüme sind wie unterm Mikroskop vergrößert – und betonter Künstlichkeit. So offenbaren die Gesichter der eingesetzten Puppen mit markierten Spuren ihr Zusammengesetztsein, ihr mechanisches Wesen, wenn man so will. Und doch scheint genau das die Identifikation mit ihnen leichter zu machen. Das menschliche Drama von Fremdheit und Entfremdung – selten hat man es so anrührend gesehen wie hier in Kaufmans Puppeninszenierung. Dass die Jury ihren Großen Preis, die Silbermedaille des Festivals, an »Anomalisa« verlieh, war denn auch die meistbeklatschte Entscheidung der diesjährigen Löwenvergabe.
Der Rest der Preisverleihung galt dagegen als ziemliche Überraschung. Mit dem Goldenen Löwen für den venezolanischen »Desde Allá« ging tatsächlich zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die höchste Auszeichnung nach Lateinamerika. Den Film des Regiedebütanten Lorenzo Vigas, der eine schwierige Männerbeziehung zwischen Gewalt, Missbrauch und Rache zeigt, hatten die wenigsten als Preiskandidaten auf dem Schirm. Doch über die anfänglichen Buhrufe hinweg setzte sich schnell die Erkenntnis durch, dass mit dem lateinamerikanischen Preisträger das stets sehr euro-lastige Festival nun eine längst fällige Öffnung vollzieht. Mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie an den Argentinier Pablo Trapero konnte dazu gleich ein weiterer Südamerikaner einen der Hauptpreise gewinnen. Traperos »El Clan« ist die Verfilmung des wahren (!) Kriminalfalls um einen schrecklichen Patriarchen, der brutale Menschenentführungen als lukratives Familiengeschäft betrieb. Interessanterweise schneidet er wie »Desde Allá«, der Goldene-Löwe-Preisträger aus Venezuela, das Thema der übermächtigen, selbstherrlichen und gewalttätigen Väter an, wie stellvertretend für das totalitäre Erbe der Militärdiktaturen, deren Folgen auf dem ganzen Kontinent noch nachhallen.
So wenig sich von heute aus vorhersagen lässt, welche Filme letztlich im Gedächtnis bleiben werden – als herausragend wird der Jahrgang 2015 jedenfalls nicht in die Festivalgeschichte eingehen. Zu bieder, ausgewogen und trotz heißer Themen sehr geordnet ging es ansonsten auf diesem 72. Festival von Venedig zu. Beiträgen wie dem türkischen Thriller »Frenzy«, der in fast unheimlicher Nähe zur Aktualität das Bild einer Türkei am Rande des Bürgerkriegs zeichnete, oder der amerikanischen Netflix-Produktion »Beasts of No Nation« über afrikanische Kindersoldaten, stand eine Vielzahl an gängiger Kinoware wie Xavier Giannolis »Marguerite«, Tom Hoopers »The Danish Girl« (beides wieder von realen Personen inspirierte Geschichten) oder auch Christian Vincents »L’Hermine« gegenüber. Genau darin bildete das Festival aber auch die gegenwärtige Krise der Branche ab – einer Branche, die sich in der transformierenden Landschaft globaler Vertriebswege und zunehmender Konkurrenz durch TV-Serien neu positionieren muss.
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