Doclisboa 2015
Das in Lissabon beheimatete Festival doclisboa hat ein Gespür für die Grenzfälle und Außenposten des Dokumentarischen
Die letzten Jahrzehnte haben Lissabon auch städtebaulich einen dramatischen Umbruch verpasst, der ganze Straßenzüge dem Abrissbagger vorwarf. Das traf auch viele der prächtigen Kinopaläste aus der heroischen Zeit des Lichtspiels. Einer der wenigen Überlebenden ist das 1947 erbaute Cinema São Jorge im Stadtzentrum, das im ersten Stock neben einem imposanten (und noch zu seinen Lebzeiten nach Manoel de Oliveira benannten) Kinosaal einen großen Salon mit Balkonterrasse zur Avenida de Liberdade verfügt.
Das São Jorge ist mit seinen drei Sälen auch Herz und Seele des portugiesischen Dokumentarfilmfestivals doclisboa, das diesen Oktober in seine dreizehnte Edition ging. Das offizielle Zentrum des Festivals und zwei andere Kinosäle liegen allerdings weniger romantisch einige Kilometer nördlich in einer grotesk überdimensionierten Neo-Art-Déco-Burg aus den 90er Jahren, die in ihren Obergeschossen als Zentrale der Bank Caixa Geral de Depósitos dient.
Gegründet wurde doclisboa von der portugiesischen Dokumentarfilmvereinigung Apordoc, um Präsenz und Bewusstsein für dokumentarische Filmkultur im Lande zu schaffen. Das ist mit den Jahren auch gelungen – mit wachsendem Publikumszuspruch und einem Programm, das sich in einem nationalen und internationalen Wettbewerb, einem halben Dutzend Spezialreihen und zwei Retrospektiven politisch kämpferisch und filmästhetisch selbstreflektiert positioniert. Dabei interessiert man sich nicht nur in ausdrücklich »Riscos« und »Cinema of Urgency« benannten Sektionen mehr für die sperrigen – auch experimentellen – Grenzfälle und Außenposten des Dokumentarischen als für die reine Lehre oder Doku-Mainstream.
Eine Positionierung, die Ausdruck in einer ganzseitigen Erklärung fand, mit der das Team die diesjährige Ausgabe des Festivals der am 5. Oktober verstorbenen belgischen Filmemacherin Chantal Akerman widmete, die für eine ihr gewidmete Retrospektive 2012 bei doclisboa zu Gast war. Dieses Jahr war mit dem serbischen Regisseur Želimir Žilnik ein ähnlich radikal und grenzgängerisch arbeitender (und doch ganz anders tickender) Cineast für die gemeinsam mit der Cinemateca Portuguesa veranstaltete umfassende Rückschau zu Gast. Dabei hatte sich der mit bisher über 50 Arbeiten äußerst produktive politische Filmemacher in seinen mit sehr wenig Geld produzierten, oft semidokumentarischen Arbeiten schon seit den 70er Jahren bis heute mit dem Thema Migration beschäftigt.
Die andere Retrospektive war filmischen Auseinandersetzungen mit dem Terrorismus gewidmet und versammelte unter dem Titel »I don't throw bombs, I make films« neben den (auch in Deutschland) üblichen Verdächtigen wie »Deutschland im Herbst« oder Christian Petzolds »Die innere Sicherheit« auch mitreißende Dokumente wie Pere Portabellas »El Sopar« (1974), der noch zu Franco-Zeiten fünf ehemalige politische Häftlinge zu einem klandestinen Gespräch über Handlungsoptionen um einen Esstisch versammelt.
Programmatisch wohl der Entschluss des dieses Jahr auf ein Dreierteam (Tiago Afonso, Cíntia Gil, Davide Oberto) erweiterten Leitungsteams, zur besten Sonntagnachmittagszeit im großen Saal mit »L'Orchestre Noir« (Frankreich 1997, Regie: Jean-Michel Meurice) eine zweistündige Dokumentation zum rechten Terror in Italien zu bringen, die gerade mal zwei Dutzend Zuschauer anlockte. Dabei hatte der grandios recherchierte Film zur Zusammenarbeit von CIA und italienischen Diensten bei dem ursprünglich der Linken zugeschriebenen Attentat an der Mailänder Piazza Fontana 1969 reichlich Spannung und Sprengkraft. Zum gleichen Komplex gab es mit »Materiale No. 2 – Ipotesi sulla Morte di G. Pinelli« (1970) ein Agitprop-Stück von Elio Petri, in dem drei verschiedene Versionen der Ereignisse um den beschuldigten und aus einem Fenster gestürzten Anarchisten Giuseppe Pinelli nachgespielt werden, um die Unhaltbarkeit der offiziellen Version zu demonstrieren. Die Unterzeichnerliste im Abspann liest sich wie ein Who’s who der damaligen italienischen Filmszene – nur Fellini fehlt.
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