Das Leben geht weiter
»Verfehlung«
Viele Filme kreisten um ernste Themen und waren in der Elterngeneration angesiedelt
Kurz vor der Messe wird der Priester von der Polizei abgeholt. Er soll sich an einem Jungen vergangen haben. Seine zwei Freunde, ebenfalls Priester, sind sprachlos: Kann das wahr sein? Gekonnt umschifft Gerd Schneider in seinem Erstling Verfehlung alle Fallstricke seines Themas und analysiert mehr die Strategien, mit denen die Kirche mit dem Thema umgeht. Ein aktueller, aufrüttelnder Film.
Und ein Film mit einem eher »erwachsenen« Thema, wie viele Filme in diesem Jahr beim Filmfestival Max Ophüls Preis um ernste Themen kreisten und eher in der Elterngeneration angesiedelt waren. In Wir Monster von Sebastian Ko etwa vertuscht ein getrennt lebendes Elternpaar den Mord, den ihre Tochter begangen hat – und kommt nicht raus aus einer aberwitzigen Spirale des Verbergens. Unter der Haut von Claudia Lorenz, ebenfalls ein Erstling, exerziert ein spätes schwules Coming-Out durch – gesehen aus der Perspektive der Partnerin und der Kinder. Eine Familie, die Ehepartner sind 18 Jahre verheiratet, drei Kinder, zieht in ein neues Haus am Zürichsee. Zu Beginn des Films erforscht die Kamera die leeren Räume, die die Familie beziehen wird, die Bühne dieses stillen Dramas. Eines Tages findet Alice (Ursina Lardi) Links zu schwulen Datingseiten auf dem Familiencomputer. Doch es fällt ihr schwer zu realisieren, dass ihr Mann (Dominique Jann) auf dem Weg in ein neues Leben ist. Sie kämpft um ihre Ehe, geht mit ihm wieder aus, will nicht wahrhaben, dass ihr Kampf ein aussichtsloser ist, fängt an zu trinken.
Lorenz hat ihren Film ohne jede Schuldzuweisung in Szene gesetzt, wie die Dokumentation einer Krise, an deren Ende das Leben wieder weitergeht. Der großartigen Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi gelingt es, die ganzen Facetten dieser Frau, der das Leben wegbricht, darzustellen, Hoffnung und Resignation, Leidenschaft und Zusammenbruch.
Für einen Nachwuchs-Darstellerpreis kam Ursina Lardi (44) sicherlich nicht infrage. Und Unter der Haut wie Verfehlung gingen bei der Vergabe der Ophüls-Herzen leider komplett leer aus. Die Jury entschied sich für das durchaus auch beeindruckende Jugenddrama Chrieg von Simon Jaquemet, in dem der Junge Matteo in ein Erziehungscamp auf einer Alp kommt, wo er mit seiner Clique später regelrechte Feldzüge gegen die Erwachsenenwelt starten wird.
Auch Chrieg stammt aus der Schweiz, die in diesem Jahr mit fünf Beiträgen in einem 17 Filme umfassenden Wettbewerb nicht nur eine starke Präsenz zeigte, sondern auch Einfallsreichtum und Ambition wie schon lange nicht. Confusion von Laurent Nègre etwa verfolgt im Stil einer Dokumentation eine Genfer Staatsrätin, die einen ehemaligen Guantanamo-Häftling empfangen soll, dem die Schweiz Asyl bietet, und sich mit Ränkespielen, politischen Gegnern und noch dazu einer privaten Malaise herumschlagen muss. Trotz der Atemlosigkeit seiner Inszenierung hat der angenehm kurze Film noch genügend Witz – und demonstriert, dass ein Mockumentary auch zur politischen Analyse taugt. Cure – Das Leben einer anderen, eine schweizerisch-kroatisch-bosnische Koproduktion, ist ein faszinierendes Vexierspiel um Identität, situiert im Dubrovnik des Jahres 1993. Einen starken Eindruck hinterließ auch Driften von Karim Patwa: Da trifft ein jugendlicher Raser (Max Hubacher), der mit seinen Kumpels illegale Rennen fuhr und dabei ein Mädchen tötete, per Zufall in einer Straßenbahn dessen Mutter (Sabine Timoteo), verfolgt sie und freundet sich mit ihr an, irgendwie. Das ist eine ähnliche Versuchsanordnung wie sie Christian Petzold in seinem kühlen Wolfsburg verfolgte, nur Patwa hat sie in seinem Film, der den Preis der saarländischen Ministerpräsidentin und den der Ökumenischen Jury bekam, mit einer fiebrigen und emotionalen Intensität in Szene gesetzt. Das Wort Geschwindigkeitsrausch bekommt eine ganz andere Bedeutung in diesem Film: Es hat auch etwas mit Sucht zu tun.
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