Im Osten viel Neues
© goEast Festival
goEast, das Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden, reagiert auf die aktuellen Ereignisse und profiliert sich als Spiegel der Veränderung
Es ist paradox: Der Russland-Ukraine-Konflikt lässt das westliche Interesse an Osteuropa in einer Weise aufflammen, wie es kein Ereignis der letzten 20 Jahre mehr vermochte. In Wiesbaden nutzte man die Gunst der Stunde und bat gleich zum Festivalauftakt die eingeladenen russischen und ukrainischen Gäste zu einem gemeinsamen öffentlichen Gespräch. Der Saal war voll, das große Interesse fast mit Händen zu greifen – und dann zeigte sich, dass einerseits zu viele und andererseits zu wenige Fragen im Raum standen. Die politische Lage zu erörtern, so das Empfinden der Filmleute sowohl aus Russland wie auch aus der Ukraine, könne nicht ihre Aufgabe als Künstler sein. Und um über die aktuellen Besonderheiten des russisch-ukrainischen Kulturdialogs zu sprechen, dazu fehlte es an zugespitzten Fragen. Der Moderator (Filmkritiker Martin Blaney) ließ stattdessen einfach alle mal zu Wort kommen. Aber auch wenn sich aus den Statements keine These ergab – außer der, dass die Lage in der Tat besorgniserregend sei –, so konnte der aufmerksame Zuschauer und Zuhörer aus dem Gesagten doch ein paar charakteristische Einblicke gewinnen.
Nicht zu überhören war zum Beispiel, wie eng die Kulturen miteinander verflochten sind. Obwohl die russische Seite durch eine Übersetzerin mit dem Publikum sprach, während die Ukrainer es direkt in Englisch adressierten und so schon eine unterschiedliche Nähe zum Westen an den Tag legten – sobald die Teilnehmer untereinander sprachen, war von Verständigungsproblemen nichts zu spüren. Im Gegenteil, in jeder Anspielung zeigte sich, wie viel man voneinander weiß und wie sich die Lebensumstände gleichen. Wenn auch die Filmförderstrukturen im Einzelnen differieren.
Letzteres sind die Unterschiede, die für die Anwesenden zählen. Der ukrainische Produzent und Regisseur Dmytro Tiazhlov, im Festivalprogramm mit dem Kompilationsfilm Ukraine_Stimmen vertreten, tat es als absurd ab, dass es in der Ukraine zu einem Boykott von russischen Filmen kommen könne. Da sei schon die auch in seiner Heimat sehr lebendige Praxis der Internetpiraterie vor.
Ukraine_Stimmen war zwar der einzige Film aus der Ukraine, den das Festival in diesem Jahr zeigte. Die Zusammenstellung von acht Kurzdokumentationen erwies sich dafür als umso aufschlussreicher. Der »Euromaidan«, wie viele der an den Demonstrationen dort Beteiligten sagen, tauchte in verschiedenen Facetten auf. Neben einzelnen »Protestbürgern« – ein Priester, der sich für Schwulenrechte einsetzt, ein Journalist, der zum Bewegungsführer aufsteigt, oder ein Naturschützer, der sich zur Teilnahme durchringt – porträtiert der Film auch ein paar echte Außenseiter der ukrainischen Gesellschaft, etwa einen Schwarzafrikaner, der einst nach Kiew zum Studium geschickt wurde und sich dort nun als Marktverkäufer durchschlägt. Dessen gutgelaunte Schilderung seiner absoluten Chancenlosigkeit auf eine reguläre Arbeitsstelle sagt mehr über Rassismus in der Ukraine als alle Bilder von Kosakenverbänden.
Mit solchen Schlaglichtern war Ukraine_Stimmen ein Paradebeispiel dafür, dass der Reichtum der postsozialistischen Gegenwart filmisch erst noch zu erschließen ist. Die Festivalsektion »Beyond Belonging« war passenderweise dieses Jahr dem Thema »Socialism – Utopia Revisited« gewidmet. In der Reihe von Spiel-, Dokumentar- und Essayfilmen zeigte sich einmal mehr, dass sich mit bloßer Theorie der Realität nicht beikommen lässt. Der Lebenslauf ehemaliger »Marxismus-Leninismus«-Lehrerinnen (Marxism Today), das Kreditproblem einiger kroatischer Schuldner (U braku za Svicarcem) oder die kollektiven Körper, mit denen der Sozialismus seine Feiern schmückte (Yugoslavia, How Ideology Moved Our Collective Body): noch immer ist es zu früh, um ein Fazit zu ziehen, man muss einfach weiter hinschauen!
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns