Kritik zu Wie ich lernte die Zahlen zu lieben
Filmisches Selfie: Die Praunheim-Schüler Oliver Sechting und Max Taubert vermessen in dokumentarischer Selbstbeobachtung die Grenze zwischen den amüsanten Marotten der Künstler und dem düsteren Abgrund von Depression und Zwangsvorstellungen
Oliver Sechting, der Lebensgefährte und Mitarbeiter von Rosa von Praunheim, schleppt ein Problem mit sich herum, das ihn und die dünnhäutigen Menschen seiner Umgebung an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. Sechting nimmt die Menge an Nummern im Straßenbild, die unserer Orientierung dienen, wie eine Masse erdrückender Unglücksboten wahr. Er kämpft damit, dass ihn bestimmte Zahlenkombinationen psychisch aus dem Tritt bringen. Sie befeuern seine tiefen, trotz Therapien unheilbar scheinenden Traumata, eine sagt ihm sogar das Schlimmste, nämlich seinen »sozialen Tod«, voraus.
Sechting weiß alles über die Ursachen und Mechanismen solch einer »magischen« Zwangspsychose, er kann seine Geschichte und seine akuten Zustände anschaulich schildern, die Kontrolle darüber verliert er indes immer dann, wenn sein Reisekumpel und Koregisseur Max Taubert ein Quantum Distanz beansprucht und für kurze Zeit eigene Wege geht.
Ausgehend von Rosa von Praunheims Film Überleben in New York (1988) besuchen Sechting und Taubert einstige, längst ergraute Szenestars des Vorläuferfilms. Die beiden Protagonisten der neuen Schwulengeneration erkunden, was Glück für die Diven der 80er Jahre heute bedeutet und wie sie mit ihren Verlusten, ihrer Trauer und Todesgewissheit umgehen. Der Film der Praunheim-Schüler schreibt die Themen ihres Übervaters und Produzenten weiter, setzt jedoch andere Gewichte: Exzentrische Spleens erscheinen nicht mehr als befreiende Maskenspiele, als subversive Tricks, vielmehr rühren sie an aktuelle Diskurse um die Zeitkrankheiten Panik und Depression.
Ist »Crazyness« ein Ticket, um dem langweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt zu entkommen, wie der wunderbar gealterte Warhol-Star Ultra Violet behauptet? Folgt Tom Tykwer nur einem notwendigen Ritual, das ihm hilft, die chaotische Welt zu ordnen, wenn er Räume mit exakt zehn Schritten zu durchmessen versucht und nie auf den Spalt zwischen Bordsteinen tritt? Wo verläuft die Grenze zwischen den amüsanten Marotten der Künstler und dem düsteren Abgrund, in den es Oliver Sechting zieht?
Neben den Episoden, die zumeist Oliver Sechting als klugen, empathischen Interviewpartner zeigen, nehmen Kameraprotokolle seiner Angstzustände, seiner Erinnerungen an die Kindheit und surreale Visualisierungen seiner Alpträume immer mehr Raum ein. Die Kamera liebt den 39-jährigen blonden Mann, seine Verletzlichkeit rührt, sein angeknackstes Charisma macht neugierig. Max Taubert, der jüngere, anfangs unbelastete Teampartner wird in die Defensive gedrängt. Vier Wochen teilen sie das enge Apartment, entwickelt sich die gemeinsame Arbeit zu einer hochkomplexen Paarbeziehung. Wie ich lernte die Zahlen zu lieben ist das filmische Selfie eines Mannes, der sich seinen Zwangsvorstellungen zu stellen versucht.
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