Kritik zu Was du nicht siehst
Was wie ein normaler Familienurlaub beginnt, entwickelt sich zu einer subtilen Horrorgeschichte in diesem gelungenen Debüt von Wolfgang Fischer, dem die Kameraarbeit von Martin Gschlacht eine großartige visuelle Dimension verleiht
Dieser Film legt Fährten. Beschwört Ahnungen herauf. Die Dinge des Alltags sind auf einmal gar nicht mehr so alltäglich. Weil der Blick der Kamera ein paar Sekunden zu lange auf etwas verweilt, weil Menschen wie Geister auftauchen oder einfach eine Wassermelone auf den Boden fällt, deren roter Saft aussieht wie Blut.
Der 17-jährige Anton (Ludwig Trepte) fährt mit seiner Mutter (Bibiana Beglau) und deren Freund (Andreas Patton) zu einem Urlaub in die Bretagne, da, wo schwarz und unheilvoll die Bunker aus der Zeit der deutschen Okkupation herumstehen. Eigentlich scheint er etwas zu alt dafür, doch vielleicht hängt seine Teilnahme auch damit zusammen, dass sein leiblicher Vater vor einiger Zeit durch Selbstmord aus dem Leben schied. Schon während der Fahrt lernt er an einer Tankstelle den etwa gleich alten David (Frederick Lau) kennen, übergriffig, gewaltbereit, ein junger Mephistopheles. Die Patchworkfamilie bezieht ein neusachliches Ferienhaus in einem Wald auf der Düne, das wirkt, als hätte es ein Mies van der Rohe des Schreckens gebaut. Dieses Haus mit seiner Glasfassade bietet keinen Schutz, weder vor Blicken noch vor Besuchern. Und nachts, wenn der Wind vom Meer weht, wird es zu so etwas wie einem Spiegelkabinett von Antons Ängsten.
Nebenan wohnen David und Katja (Alice Dwyer), ein rätselhaftes Paar. David gibt Katja als seine Schwester aus und tischt Anton eine Familiengeschichte auf, nach der ihre Eltern tot sind – aber auch das wird sehr schnell relativiert. Die beiden verkörpern für Anton eine ganz andere Welt: Ungebundenheit, Sex, Gewalt. Mit ihnen unternimmt er Ausflüge an den Strand und in den Wald, den der hervorragende Kameramann Martin Gschlacht als Märchenwald in Szene gesetzt hat. Einmal liegt ein totes Reh wie in einem Stillleben im See. Für Anton sind die beiden Botschafter des Chaos; David ist, vielleicht, ein Spiegelbild seiner eigenen Gefühle, die nach Ausbruch zehren. Zwischen beiden herrscht jene brütende Verbindung, die wir von klassischen Killerpaaren des Kinos, aus Hitchcocks Rope oder Kaltblütig von Richard Brooks kennen. Wolfgang Fischer hat mit seinem Regiedebüt eine sehr geschickte Verbindung von Comingof- Age-Drama und Horrorfilm geschaffen – ist nicht jedes Erwachsenwerden ein Horror? –, ein Werk, das seinen Scope-Bildern vertraut, wie man es im deutschsprachigen Kino in den letzten Jahren nicht gesehen hat. Von der ersten Szene an, die Antons Blick von einer hohen Klippe ins tosende Meer zeigt, erzeugt der Film eine sogartige Atmosphäre. An den mitunter verschwurbelten Dialogen, die die Erwachsenen absondern, hätte Fischer noch feilen können, ebenso an der Musik, die in ihrer Entrücktheit manchmal dick aufträgt.
Auch wenn am Ende eine eindeutige Lösung zu stehen scheint, bleibt vieles mehrdeutig und rätselhaft. Wer waren David und Katja wirklich? In jedem Fall stellt dieser Film dem Zuschauer mehr Fragen, als er beantwortet. Nur eines weiß er sicher: Der Abgrund liegt immer nur ein kleines Stück vom Weg entfernt.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns