Kritik zu A Thousand and One

© Universal Pictures

Der Gewinnerfilm des diesjährigen Sundance-Filmfestivals ist das Porträt einer schwierigen, komplexen Frauenfigur, die Chronik einer Stadt im Gentrifizierungswandel und eine Reflexion über den Familienbegriff

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Wenn von typischen Sundance-Filmen die Rede ist, dann lassen sich die damit gemeinten Werke meistens in zwei Kategorien einteilen. Entweder geht es um Feelgood-Geschichten, die bittersüß und doch erbaulich sind, man denke an »Little Miss Sunshine« und den Oscargewinner »CODA«. Oder es kommen einem klassische Independent-Produktionen à la »Precious« oder »Thirteen« in den Sinn, die ihren Fokus auf emotionale Abgründe und die Ränder der Gesellschaft richten und ohne einen Festivalerfolg wohl keine Chance an den Kinokassen haben würden. In die letztgenannte Kategorie fällt auch »A Thousand and One«, der in diesem Jahr in Sundance mit dem Grand Jury Prize ausgezeichnet wurde. 

Regisseurin A. V. Rockwell erzählt in ihrem Langfilmdebüt von Inez (Teyana Taylor), die 1994 mit 22 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Ohne Job, festen Wohnsitz oder wirkliche Hilfe muss sie versuchen, einen Platz im Leben zu finden, den sie eigentlich sowieso noch nie hatte. Und sie trägt nicht nur für sich selbst Verantwortung: Als Erstes holt sie auf eigene Faust den sechsjährigen Terry (Aaron Kingsley Adetola) zu sich, der zwischenzeitlich in einer Pflegefamilie und dabei auch im Krankenhaus gelandet war. Ein Fall von Kindesentführung natürlich, doch Inez weiß aus jahrelanger eigener Erfahrung in Heimen aller Art nur allzu gut, dass sie sich jede noch so kleine Krume Glück in ihrem Leben selbst erkämpfen muss – und dass das System Menschen wie ihr im Zweifelsfall ohnehin selten allzu viel Beachtung schenkt.

Über die Jahre baut die junge Frau in Harlem für sich und Terry (später gespielt von Aven Courtney und Josiah Cross) sowie den Lebensgefährten Lucky (William Catlett) eine zwar prekäre, aber auf bescheidene Weise leidlich stabile und glückliche Existenz auf. Inklusive neuen Namens und gefälschter Geburtsurkunde und damit auch der Gewissheit, dass eines Tages alles herauskommen wird. Dass Rockwell, die auch das Drehbuch schrieb, ihre Geschichte nicht an jeder Ecke die schlimmstmögliche Wendung nehmen lässt, ist eine der vielen Stärken dieses Films. Was nicht heißt, dass am Ende – im Jahr 2005, als Terry 17 Jahre alt ist – nicht doch noch einige bittere Wahrheiten Figuren und Publikum gleichermaßen wie Schläge in die Magengrube treffen.

Enorm geschickt webt Rockwell, die auch selbst das Drehbuch zum Film verfasste, verschiedene Themen in ihre Handlung ein, von Gentrifizierung und dem Wandel, den New York City unter Bürgermeister Giuliani und später seinem Nachfolger Bloomberg durchgemacht hat, bis hin zur rassistischen Misogynie, der schwarze Frauen immer wieder gegenüberstehen. Das Herzstück von »A Thousand And One«, der seinen Titel der Apartmentnummer 10/01 und einem fehlenden Schrägstrich verdankt, stellt allerdings der humanistisch-einfühlsame Blick der Regisseurin auf ihre Protagonistin dar, die darum ringt, um jeden Preis als Erziehungsberechtigte zu funktionieren und ein Zuhause zu bieten, ohne so etwas selbst je erlebt zu haben. 

Das allein wäre schon sehenswert, auch weil Rockwell in ihrer alles andere als gewöhnlichen Mutter-Kind-Geschichte nicht nur auf Sozialkitsch verzichtet, sondern auch darauf, das Verhalten ihrer Protagonistin mit allzu schlichten moralischen Kategorien zu be- oder verurteilen. Doch zum Ereignis wird dieser kleine und doch wuchtige Film nicht zuletzt durch seine Hauptdarstellerin: Teyana Taylor, die bereits als Jugendliche einen ersten Plattenvertrag unterschrieb, als Sängerin ein paar kleinere Hits hatte und kürzlich in den USA die Show »The Masked Singer« gewann, doch schauspielerisch in Produktionen wie »Der Prinz aus Zamunda 2« bislang kaum besonders auffallen konnte. Hier nun erweckt sie die schwierige Figur der Inez in all ihrer Härte, ihrer Verletzlichkeit und ihrer Liebe auf derart energiegeladene, komplexe Art und Weise zum Leben, dass man den Blick keinen Moment lang von ihr abwenden mag. Man kann nur hoffen, sowohl von ihr als auch von ihrer Regisseurin bald noch mehr zu sehen.

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