Kritik zu Normal
Nicht als Mädchen geboren, sondern zu Mädchen gemacht: Adele Tulli versucht in ihrem Filmessay die Geschlechtskonditionierung im ganz normalen Alltag mit der Kamera aufzuspüren
Ein kleines Mädchen bekommt Ohrlöcher gestochen und erhält dafür Komplimente für Tapferkeit und Hübschsein. Stolze Väter feuern ihre Jungen bei einem Rennen auf Miniatur-Motorrädern an. Weibliche Teenager, die vor einer Buchhandlung einem YouTube-Star hysterisch zujubeln und sich dann reihenweise von ihm abküssen und mit ihm ablichten lassen. Die Herstellung einer Spielzeug-Bügelstation in hellblau und pink. Größere Jungs am Ego-Shooter und bei paramilitärischen Übungen mit Gewehren. Aufgetakelte Mädels, die vor Männerblicken am Strand oder an einer Stange tanzen. Frauen, die in einem Vor-Ehekurs den angemessenen Umgang mit Männern lernen. Kandidatinnen einer Misswahl, gefilmt an ihrem Rücken vorbei mit Frontalblick auf die Jury. Männliche Boxkämpfer...
Das sind einige Szenen dieses Films, die zum größten Teil alles andere als »normal« wirken. Im Gegenteil scheinen sie erst mal nur bizarr, sind an den Drehorten in Italien aber anscheinend gelebte Realität, auch wenn man sicherlich davon ausgehen darf, dass Regisseurin Adele Tulli sie sich sehr bewusst herausgesucht hat. Dezidiertes Sujet ihres Films ist nämlich eine besondere (dem Verständnis dieses Begriffs durch Rechtspopulisten entgegengesetzte) Form von Gender-Wahn: Die Praxis, menschliches Leben schon ab dem Kleinkindalter auf bestimmte Geschlechterrollen zu konditionieren. In Italien mit der katholischen Tradition, seiner Bunga-Bunga-Party-Vergangenheit und der stark sexualisierten Medienwelt wird solcher Sexismus besonders drastisch sichtbar. Regisseurin Adele Tulli ist selbst Italienerin (auch wenn sie in London Film studiert hat) und dürfte diese heimatliche Situation mit verschärfter Sensibilität wahrnehmen. Für ein Publikum anderswo allerdings sieht manches zur Groteske verzerrt aus. Das macht Tullis Anliegen einerseits sehr deutlich, wirkt aber in manchen Szenen auch plakativ.
Andere Situationen dagegen stehen ohne argumentative Aufladung für sich. Eine lange Wasserrutsche mit Zuschauern am Strand etwa. Oder die unter Wasser gefilmte Eröffnungsszene, wo schwangere Frauenbäuche in gleich gemusterten Badeanzügen Wassergymnastik betreiben. Das ist schön zu sehen, macht aber im Kontext des Films auch ratlos.
So wirkt »Normal« insgesamt unausgegoren. Der Film schärft sicherlich den Blick für die Asymmetrien im patriarchalen Geschlechterverhältnis, schafft aber nicht, Akteure, Interessenlagen und Wirkungszusammenhänge jenseits des Offensichtlichen aufzuzeigen. Vielleicht wäre es gut gewesen, ein paar Stationen weniger zu zeigen und diese dafür stärker und vielschichtiger zu durchdringen. So bleibt das ganze eher eine Panorama-Schau. Am Ende die in einem ehrwürdigen Theater groß und pompös gefeierte Verpartnerung eines Männerpaares mit Torte in Regenbogenfarben, offizieller Ansprache und angehängten Orden. Zugleich Gegenentwurf wie peinlich genaue Nachbildung des herkömmlichen Ehe-Modells.
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