Kritik zu More Than Strangers
Eine Reise von Berlin nach Paris als grenzüberschreitende Erfahrung der kleinen europäischen Besonderheiten, aber auch der Solidarität: In Sylvie Michels Film bilden fünf Menschen, die sich nicht kennen, eine Fahrgemeinschaft
Eigentlich wollte Patrick (Cyril Gueï) nur möglichst schnell und günstig mit dem Auto von Berlin nach Paris, wo seine hochschwangere Frau auf ihn wartet. Also mietete der Franzose ein Auto und bot die verbleibenden Plätze als Mitfahrgelegenheit an. Und sammelt nun an diesem Morgen ab sieben Uhr nach und nach vier Fremde ein, die alle dasselbe Ziel haben, aber sonst kaum unterschiedlicher sein könnten. Und das sorgt die nächsten Stunden auf engstem Raum für zahlreiche Reibereien und Konflikte in Sylvie Michels Roadmovie.
Sophia (Smaragda Karydi), durchgestylte griechische Gattin eines Geschäftsmanns (Samuel Finzi), die der Sinnleere ihrer Ehe entfliehen will, der dauerkiffende Deutsche Chris (Samuel Schneider) sowie Julia (Julie Kieffer), die in Berlin Newsletter für ein Start-up schreibt und auf dem Weg zu ihrem französischen Lover ist. Wer wie tickt und wer was zu verheimlichen hat, enthüllt sich mit jedem zurückgelegten Kilometer in diesem rollenden Kammerspiel, das zwischen Komödie und Drama gratwandert. Ernst wird es, als sich George (Léo Daudin), der Fünfte im Wagen, als Flüchtling ohne Aufenthaltsgenehmigung entpuppt. Da wird der Grenzübergang plötzlich zum riskanten Unterfangen, das die Probleme der anderen nichtig erscheinen lässt.
Die aus Südfrankreich stammende und seit mehr als 20 Jahren in Berlin lebende Regisseurin Sylvie Michel (»Die feinen Unterschiede«, 2012) inszeniert diese deutsch-griechische Coproduktion als Dramödie über Europa im Kleinen. Das Spiel mit dem Sprachenmix aus Deutsch, Französisch, Englisch und Griechisch ist erfrischend lebensnah. Beim Filmfest München wurde Michel dafür 2023 mit dem Regieförderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet. Und tatsächlich ist das rollende Kammerspiel flott inszeniert, auch wenn es seine konstruiert wirkende Form auf den langen Kilometern nie ganz hinter sich lassen kann. Kameramann Patrick Orth macht das Beste aus dem beengten Raum, findet immer wieder neue Einstellungen und Blickachsen zwischen den Mitfahrenden. Als Zuschauer sitzt man mittendrin. Zwischentitel zeigen dabei regelmäßig die verbleibenden Fahrtstunden bis Paris an und erweisen sich, bei ungeplanten Umwegen, als wenig verlässlich.
Nicht jede Wendung des Drehbuchs ist glaubhaft und manche Szene schrammt arg am Klischee entlang, der kurze Flirt zweier Insassen etwa oder der gemeinsam gerauchte Joint, der die Society-Dame gleich zum heiteren Schafekuscheln auf der Weide verleitet. Doch davon abgesehen bleibt der Tonfall meist angenehm zurückgenommen, auch wenn es dramatisch wird.
Die gemeinsam durchgestandene Reise bringt das Quintett schließlich unvermeidlich näher zusammen. Als es kurz nach der Grenze doch noch ein ungutes Ende zu nehmen droht, erwacht trotz aller Querelen spontan ein antiautoritärer Geist der Solidarität. Im Sinne dieses Films zumindest ist Europa eben doch mehr als ein Haufen Fremde.
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