Kritik zu Memento

Trailer englisch © Lionsgate

Christopher Nolan erzählt seinen Thriller von hinten nach vorn

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Es kommt nicht oft vor, dass man beim Betrachten eines Thrillers in jeder Sekunde gefordert ist, hochkonzentriert mitzudenken und zu kombinieren. Dem 31-jährigen Christopher Nolan genügt in Memento dazu ein ebenso simpler wie genialer Kunstgriff. Es bereitet größte Freude, Memento nach der Vorführung vor dem geistigen Auge nochmals ablaufen zu lassen. Und weil man, passend zur Handlung, schnell feststellt, wie trügerisch und unsicher die eigene Erinnerung sein kann, verspürt man bald das Bedürfnis, sich das Ganze nochmal anzusehen. Was kann man über einen Film Besseres sagen?

Nolan stellt das Genre nicht (wie etwa die Coens) inhaltlich auf den Kopf, er krempelt es formal um. Im Grunde erzählt sein Film nichts weiter als eine simple Rächergeschichte mit einer zeitgemäß überraschenden Wendung am Schluss. Nolan hat sich auf Stanley Kubricks alte Weisheit besonnen, nach der die Einzigartigkeit des Mediums Film im Schnitt liegt. Während aber Regisseure wie De Palma oder Soderbergh im Schneideraum meist verschiedene Zeit- oder Bewussteinsebenen miteinander verwebten, lässt Nolan durch den Schnitt einfach die Zeit von hinten nach vorne ablaufen. Und obwohl man damit dem Ausgangspunkt aller Konflikte immer näher kommt und die Informationen immer zahlreicher werden, bewahrt der Film sich Geheimnis und Vieldeutigkeit.

Damit dieses System funktioniert, sind sämtliche Szenen bis ins kleinste Detail perfekt aufeinander abgestimmt, von Verletzungen, die verschwinden, bis zum Verschmutzungsgrad von Kleidungsstücken. Da der Film konsequent aus der Sicht der Hauptfigur Leonard Shelby erzählt wird, ist der visuelle Stil passend zu dessen Wahrnehmung überaus reduziert und konzentriert. Die Welt, in der Memento spielt, besteht aus dreckigen Motels, anonymen Diners und miefigen Bars. Außer Leonards direkten Kontaktpersonen gibt es praktisch keine Menschen, weil in seiner Wahrnehmung niemand sonst eine Rolle spielt. Und was sich außerhalb seines Spektrums abspielt, sollen auch wir nicht wahrnehmen. Keine Einstellung ist überflüssig, wie auch Leonard mit jedem Blick versucht, Licht ins Dunkel seiner Erinnerung zu bringen. Jeder Moment ist mit Bedeutung aufgeladen, von der ersten bis zur letzten Sekunde. Memento ist ein "Neo"-Noir, bei dem das "Neo" wirklich für etwas Neuartiges steht.

Aber von Genre-Fragen ganz abgesehen ist ein besonderer Clou an Nolans Umkehrung der Chronologie, dass eine Analogie hergestellt wird zwischen dem Zuschauer, der ständig versucht, sich an die vorherige Szene zu erinnern, und der Hauptfigur Leonard, der auf Grund seiner angeblich real existierenden Form von Amnesie ebenfalls fortwährend versucht, sich gerade erst Erlebtes wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die formale Struktur des Films ist also nicht nur Spielerei, sondern wird zu einer Visualisierung der Psyche seines Helden.

Ob Leonard sich allerdings wirklich wünschen würde, seine Erinnerung zurückzuerhalten, ist am Ende des Films nicht mehr klar. Um seine Unsicherheit zu bewältigen, hat er jedenfalls ein komplexes System aus Notizen und Polaroid-Fotos entwickelt, die ihm als Erinnerungsstütze dienen. Besonders wichtige Hinweise auf den Mörder seiner Frau hat er sich auf beinahe alle Partien seines Körpers tätowieren lassen. Wenn er in seinem düsterem Hotelzimmer nackt vor dem Spiegel steht, sieht er damit wie ein Verwandter von Racheengel Max Cady aus Cape Fear aus. Der exzellente, drahtige Guy Pearce spielt diesen Leonard mit einer Mischung aus Verletzlichkeit und Aggressivität, Weisheit und Wahnsinn. Sein Leiden macht ihn zu einer merkwürdig reinen Gestalt, einem "Unschuldigen" in einer Welt voller Gauner. Sollte er also dem jovialen Teddy (Joe Pantoliano) trauen, der immer einen Ratschlag parat hat und oft wie aus dem Nichts auftaucht? Und was ist mit der hübschen, aber kühlen Natalie (Carrie Anne-Moss), die eine Verbündete oder auch eine Femme fatale sein könnte? So enthält Memento zwar eine Reihe klassischer Noir-Motive, ist zugleich aber so innovativ wie kaum ein anderer Genre-Film der letzten Monate (wenn nicht Jahre).

Der Versicherungsagent Leonard sucht in einer Stadt ohne Namen den Mörder seiner Frau. Da er seit dem Überfall an Gedächtnisschwund leidet, weiss er, wenn er jemanden trifft, nicht, ob er diese Person schon kennt oder nicht. Daher fühlt er sich ständig gezwungen, vermeintlich neuen Bekanntschaften jedesmal aufs Neue sein Leiden zu erklären. Oft (auch das eine schöne Idee) redet er sehr schnell, um den Beginn der Unterhaltung nicht zu vergessen. Eine Mischung aus Komik und Tristesse haftet diesen Szenen an: Wie ein bizarrer Sisyphus wird Leonard alle paar Minuten auf seinen Ausgangspunkt zurück geworfen. Und nicht zuletzt ist Memento auch ein Essay über die Frage, was einem die größere Befriedigung bereitet: die Erfüllung eines Wunsches, dieses momentane Glücksgefühl - oder die spätere Erinnerung daran?

Mit seiner zweiten Regiearbeit hat der Brite Christopher Nolan einen existenzialistischen Thriller gedreht, der der filmischen Erzählung eine bislang ungenutzte Perspektive eröffnet: indem er seine Geschichte von hinten nach vorne erzählt, zwingt uns Nolan, vertraute, beinahe automatisierte Rezeptionsweisen aufzugeben. Ein bisschen ist das, als müsste man seine für die Filmwahrnehmung zuständigen Bereiche des Gehirns verdrehen, um damit klarzukommen: anstrengend, aber überaus stimulierend. Man könnte sich dran gewöhnen.

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