Kritik zu Lornas Schweigen
Auch die neue Arbeit der Brüder Dardenne, in Cannes fürs beste Drehbuch ausgezeichnet, hat alles, was einen großen Film ausmacht: Drama, Stilbewusstsein und eine Heldin, um die man sich sorgt
Der Anfang gehört einem Geräusch. Jenem hellen, leicht schabenden Ton, der entsteht, wenn man schnell und zackig ein Bündel Geld durchzählt. Bevor das Kino der Brüder Dardenne zum ersten Mal die Augen aufschlägt, sind wir schon mitten in diesem unaufhörlichen Tauschhandel, in dem alles, jedes Ding, jedes Körperteil einen bezifferbaren Gegenwert hat. Ein Kreislauf der Waren, in dem Moral und Emotionen Angelegenheiten sind, die man sich leisten können muss. Wir stehen am Bankschalter mit der jungen Albanerin Lorna (Arta Dobroshi), die wie eine Löwin für ein geregeltes Leben kämpft – eines mit einem gültigen Pass, einer eigenen kleinen »Snackbar« in Lüttich, einem Leben an der Seite ihres Freundes Sokol, der selbst als globalisierte Billiglohnkraft illegal über die europäischen Grenzen pendelt. »Lornas Schweigen« erzählt von ihrem großen Plan und vor allem von den immer beschwerlicheren Umwegen, die sie dafür zu gehen bereit ist.
Um die belgische Staatsbürgerschaft zu bekommen, hat Lorna den Junkie Claudy geheiratet. Jérémie Renier, der großartige Stammschauspieler der Brüder Dardenne, spielt ihn als erbarmungswürdiges Häuflein Mensch, das all seine Bedürftigkeit in die Waagschale wirft, um Lornas Geschäftssinn zu irritieren. Claudy soll schließlich mit einer Überdosis aus dem Weg geräumt werden, damit Lorna, die Neu-Belgierin, wiederum einen Russen gegen eine große Menge Geld heiraten kann, der seinerseits den belgischen Pass braucht. Nur selten ist im Kino unverschnörkelter von der Ökonomie zwischenmenschlicher Beziehungen erzählt worden.
Es ist schon unheimlich, in welch atemberaubender Serie die Brüder Dardenne ihre Idee von einem neuen »Cinema verité« verfolgen. Mit welcher Verlässlichkeit sie ihre klarsichtigen und emotional zwingenden, kleinen Dramen entrollen. Wie unbeirrbar sie ihren Stil verfolgen, mit dem sie uns in ihrer physischen Bildsprache mit ihren Helden und Heldinnen konfrontieren. Ein Kino, das nicht anklagt, nicht aufklärt, sondern zeigt. So schlicht, so direkt, wie es nur geht.
Dabei wirkt ihre Bildsprache in »Lornas Schweigen« noch reduzierter als zu ihren Anfängen. Noch weniger als früher gibt es emotionalisierende Nähe. Nur selten weitet sich der Blick zur Totalen, die die soziale Architektur überschaubar macht. Die Dardennes bevorzugen hier die Halbtotalen einer fest stehenden Optik. Angeschnittene Lebensräume und Torsi, die sich in ihnen bewegen. Die Kamera vermeidet jeden Reportagestil, sie distanziert sich und krallt sich nicht mehr in den Rücken der Protagonisten wie noch bei der visuellen Kriegsberichterstattung von »Rosetta« (1999) oder »Der Sohn« (2002). Lorna befindet sich nicht in der Schlacht, in die Rosetta jeden Tag zwischen Autobahnzubringern, Straßenimbiss und Trailerpark aufs Neue zieht. Lorna ist längst Teil des Systems.
Das Kino der Brüder Dardennes ist eine elliptische Kunst. Was nicht wichtig ist für die innere Wahrheit einer Sequenz, wird ausgespart. Kein Bild, kein Ton scheint bei ihnen überflüssig. Die großen dramatischen Gesten verkneift man sich. Keine aufstöhnende Musik, keine langwierigen Tränenausbrüche, keine ausgespielten inneren Abgründe. Und dennoch geht es um alles und das in jeder Einstellung. Um Sterben und Leben, Schuld und Unschuld. Und nichts davon ist eine Sache von Märtyrertum oder höherer Gerichtsbarkeit. In »La Promesse« (1996) stirbt ein illegaler nordafrikanischer Arbeiter bei einem Sturz vom Baugerüst. Rosetta sieht ihrem Freund, – dem einzigen, den sie hat – erst eine Weile beim Untergehen zu, bevor sie ihn aus dem Wasser zieht. Und in »Der Sohn« sorgt man sich in jeder Einstellung, der Vater könnte den Mörder seines Kindes richten. Doch je mehr Filme die Brüder Dardenne drehen, desto leichter scheint bei ihnen auch der barbarischste Egoismus in unvermutete Zärtlichkeit umzuschlagen.
Seit »Das Kind« (2005) gibt es von Anfang an so etwas wie Mitleid als festes dramaturgisches Element. In diesem Sinne sind die Dardennes »anrührender« geworden. Auch in »Lornas Schweigen« spürt man, wie das schon instinkthafte Verhalten der Heldin in ein Gefühl von Verantwortung kippt. Erst für einen Junkie, der ihr doch eigentlich ein Klotz am Bein ist. Dann für eine Schwangerschaft – eine für die Dardennes ungewöhnlich große Symbolik. Die junge Frau kämpft gegen alle Vernunft für ihre Leibesfrucht, bricht sämtliche Abmachungen, lässt sich hetzen. Gott sei Dank sind Jean-Pierre und Luc Dardenne klug genug, mit diesem Verlauf keine Erlösungsmythen fortzuspinnen. Konsequent behalten sie ihr Thema im Blick: den wechselnden Preis des Lebens.
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