Kritik zu Lebe schon lange hier
Baufahrzeuge, spielende Kinder und zwischendurch zündet sich jemand eine Zigarette an: Sobo Swobodnik hat ein Jahr lang das Treiben auf der Kreuzung vor seiner Wohnung in Berlin festgehalten
In der Independent-Ode »Smoke« aus dem Jahr 1995 wird ein Ritual beschrieben: Seit Jahren stellt sich der Tabakladenbesitzer mit seiner Kamera an die gleiche Kreuzung und schießt ein Foto. Eine Idee voller Poesie, denn durch die diachrone Studie wird Banales und Alltägliches zu einer Erzählung über Veränderung und Vergänglichkeit.
Es scheint eben diese Idee zu sein, die auch dem Dokumentarfilm »Lebe schon lange hier« von Sobo Swobodnik zugrunde liegt. Für seinen »Heimatfilm aus Berlin«, wie es im Presseheft heißt, hat der Filmemacher ein Jahr lang das Treiben auf der Kreuzung Zehdenicker Straße, Ecke Gormannstraße aus seinem Fenster heraus beobachtet.
Eingefangen in Schwarz-Weiß sehen wir Alltägliches: städtische Kehrmaschinen, eine Gruppe Kinder, die über die Kreuzung schlendert, Radfahrer, die streunende Katze aus der Nachbarschaft, eben die Spuren des Lebens auf einer Kreuzung in einer großen Stadt. Zwischendurch dann einige »Höhepunkte«, etwa ein Fotoshooting, ein scheinbar frisch getrautes Paar oder jener weißhaarige ältere Herr, der sich mehrfach mit einer Plastiktüte bewaffnet zwischen den parkenden Autos zu schaffen macht.
Komponist Till Mertens vertont den verdächtigen Rentner mit einer Art Mickey-Mousing-Motiv Neuer Musik, eine Kakophonie aus Blas- und Streichinstrumenten. Überhaupt passiert auf der komplettierenden, kontrapunktischen und karikierenden Tonspur viel. Neben eigens komponierter und anderer Musik bekommen wir den Sound aus Swobodniks Wohnung zu hören, etwa das Radio, Fußballübertragungen aus dem Fernseher oder den Anrufbeantworter. Zwischendurch zündet sich jemand eine Zigarette an, wenn nicht gerade die Erzählstimme von Schauspieler Clemens Schick einen bedeutungsschwangeren Satz zum Besten gibt. »Die Bereitwilligkeit, einfach mal ratlos zu sein« heißt es einmal, oder: »Wir zappeln durch das Leben, aber wir leben, so lange wir zappeln«.
In sicher augenzwinkernd gemeinter Anlehnung an die Großstadtfilme aus der Frühzeit des Kinos wie Walter Ruttmanns »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« hat Swobodnik eine Miniatursinfonie im Sinn. Damals die exponierte Technikschau: Ein Tag in einer Stadt als Abbild des industriellen Fortschritts, überall Bewegung, Maschinen, Menschen, eingefangen in komplexen Montagen mit teils symphonischer Vertonung. Und hier nun eine Straßenkreuzung als kleines Schaufenster, vermengt mit subjektiven Eindrücken.
Doch so viele Assoziationen auch geweckt werden, so schön die Idee ist: Swobodniks Film schwankt zwischen bedeutungsschwanger und banal. Einen historisch interessanten Erzählbogen spannt der Film nicht, denn auch wenn der Regisseur vielleicht schon lange dort lebt, ist ein Jahr des Filmens dafür auch wieder zu kurz. Lebe schon lange hier ist ein kurzweiliger Essayfilm – aber ohne wirklichen Erkenntnisgewinn.
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