Kritik zu Küss mich bitte!
Wo endet der Flirt und wo beginnt die Untreue? Diese Frage lässt Emmanuel Mouret in seinem Film zwei Fremde erörtern, die der Zufall zu einem anregenden Gespräch beim Abendessen zusammenbringt
Verrät die Art, wie Regisseure den Liebesakt filmen, etwas darüber, wie sie ihn selbst ausüben? Offenbaren die Liebesszenen in ihren Filmen, ob sie puritanische Grobiane oder mutige Entdecker sind, geben Sie Aufschluss über ihren Einfallsreichtum? Das sind unschickliche Fragen, weil sie in privateste Bereiche vordringen, die uns Zuschauer eigentlich nichts angehen. Aber das Metier verführt zu derlei Spekulationen. Immerhin offenbaren viele Filmemacher auf der Leinwand ihre persönlichen Obsessionen. Vielleicht ist die Erotik im Kino ja nicht nur ein Schauwert, sondern ein intimes Bekenntnis.
Den Regisseur Emmanuel Mouret dürfen wir uns als einen höflichen Liebhaber vorstellen. In seinen romantischen Komödien übersetzt er die Verwirrung der Gefühle in zarten Slapstick. Seine Inszenierung ist von bewundernswerter Schamhaftigkeit; ihr größter Schauwert ist die Verlegenheit. Die Leidenschaft muss in seinen Filmen keine hohen Siedegrade erreichen, sondern darf sich in verschmitzter Ergriffenheit entfalten. Seine Liebenden gehen mit jener Schüchternheit vor, die stets auch ein Zeichen von Achtung ist. Der Titel seines neuen Films signalisiert, zumal im formvollendeten Original: »Un baiser s'il vous plait«, dass in ihm Küsse nicht gestohlen, sondern gewährt werden.
Mouret hat den Film als moralische Erzählung angelegt, die vorgibt, eine Ermahnung zur Tugendhaftigkeit zu sein, insgeheim aber ein galantes Einverständnis mit der Unberechenbarkeit der Gefühle verrät. Die Dialoge, die stolz mit einer gewissen Antiquiertheit prunken, und die Filmmusik (Schubert, Dvorak, Tschaikowski) entrücken dieses filmische Divertissement sanft den Zumutungen der Gegenwart. Seine eigentliche Geschichte erzählt Mouret als Rückblende, voller vergnügter Ellipsen, mit einem Off-Kommentar, der launig zwischen Komplizenschaft und Vorbehalt schwankt.
Bei einem beruflichen Abstecher nach Nantes lernt die Pariserin Emilie (Julie Gayet) den charmanten Gabriel (Michaël Cohen) kennen. Als dieser sie am Ende eines zauberhaften Abends bei Kerzenlicht um einen Abschiedskuss bittet, verweigert sie ihn. Zur Begründung erzählt sie eine Geschichte aus ihrem Freundeskreis, in der ein Kuss fatale Folgen hatte. Seit der Mathematiklehrer Nicolas (gespielt von Mouret selbst) vor einiger Zeit verlassen wurde, sehnt er sich nach körperlicher Zuneigung und sucht Rat bei seiner besten Freundin, der Chemikerin Julie (Virginie Ledoyen). Der Besuch bei einer Prostituierten schafft keine Abhilfe, weil sie sich nicht küssen lassen will, und ohne geht es für Nicolas einfach nicht. Sodann schlägt er der allerdings glücklich verheirateten Julie zaghaft vor, ob sie nicht mit ihm schlafen möchte; im Namen ihrer alten Verbundenheit. Nach einer überraschend kurzen Schonfrist der Skrupel planen sie den Vollzug wie ein klinisches Experiment – ihrer beider Berufe sind nicht von ungefähr gewählt –, dessen Ergebnis jedoch unerwartet ist. Aus dem Freundschafts- wird ein Liebesdienst, der ihnen beiden Lust bereitet; trotz bester Vorsätze auch beim zweiten Versuch.
Zuvorkommend verstrickt Mouret seine Figuren in den Widerspruch zwischen Vernunft und Leidenschaft, geleitet sie achtsam an den Abgrund zwischen Worten und Taten. Er inszeniert den Laborversuch um Liebe und Freundschaft mit hintergründigem Bildwitz. Während der Zuschauer anfangs dem Verfertigen des Begehrens beim Reden zuschaut, entdeckt er lauter klassische Schäfermotive an den Wänden der steril bildungsbürgerlichen Wohnung Julies; später filmt Mouret das Ausbrechen der Leidenschaften vor undezent drapierten Warnschildern: vor giftigen Pilzen und toxischen Substanzen. Die Inszenierung gibt die Figuren indes nicht der Ironie preis, sondern umfängt sie vielmehr liebevoll mit dieser. Der Kameramann Laurent Desmet komponiert die Einstellung vorzugsweise symmetrisch, was auch ein Zeichen des Respektes ist vor der Gleichberechtigung der Gefühle. Die Stilisierung – Mouret und Ledoyen spielen wie Pantomimen, denen auch das Wort zu Gebot steht – eröffnet der Fantasie des Zuschauers einen großen Resonanzraum: War die platonische Freundschaft zwischen Julie und Nicolas schon immer eine unerklärte Liebe, oder lernen sie sich jetzt erst wirklich kennen, nachdem sie einander schon lange kannten?
Stream [arte bis 14.6.2021]
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