Kritik zu Kalle Kosmonaut

© Mindjazz Pictures

2022
Original-Titel: 
Kalle Kosmonaut
Filmstart in Deutschland: 
26.01.2023
L: 
99 Min
FSK: 
12

Die Langzeitdokumentation über einen Jugendlichen in den Brennpunkten von Berlin-Marzahn-Hellersdorf erzählt von den Schwierigkeiten des Heranwachsens rund um die Allee der Kosmonauten

Bewertung: 4
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Eine Biene krabbelt auf eine Blüte, ein Schmetterling erhebt sich flatternd in die Luft, der Film beginnt wie eine Naturdoku, die sich den Schönheiten des Lebens verschrieben hat. Bis im Hintergrund eines dieser Hochhäuser auftaucht, die man schon so oft gesehen hat, wenn es um soziales Versagen geht. Sonnenblumen an der einen, das Porträt eines Kosmonauten an der anderen Seite. Dazwischen das wahre Leben in einem Vorort Berlins, das niemanden wirklich interessiert. Wenn es knallt, kommt die Polizei, wenn es ruhig bleibt, schaut man weg. Und übersieht, dass, neben vielen anderen Problemen, der Zerfall der DDR sein eigenes Prekariat hervorgebracht hat, das es bis heute nicht geschafft hat, den Anforderungen des Kapitalismus gerecht zu werden. Das Leben dieser Menschen, die nicht viel mehr sind als eine Quote, ist der Inhalt dieses Films, und man sieht, dass es nicht so einfach ist, Gründe, Schuldige und Wege aus der Misere herauszufinden. 

Über zehn Jahre haben Tine Kugler und Günther Kurth den Jungen Pascal begleitet, den alle nur Kalle nennen und der zwischen Bolzplatz und Halfpipe an der Allee der Kosmonauten in Marzahn-Hellersdorf aufwächst. Mit 13 beginnt er zu rauchen, bald kommen andere Drogen hinzu; mit 16 muss er zum ersten Mal in den Knast. Zwei Jahre und sieben Monate bekommt er, wegen schwerer Körperverletzung. »Es ist leicht, es nur auf die Drogen zu schieben«, sagt Pascal, »aber das stimmt nicht. Da ist etwas in mir drin, eine Gewalt, die ich nicht kontrollieren kann.«  

Schon im Alter von zehn Jahren, als Kugler und Kurth ihn kennenlernen, hat er mehr durchgemacht als die meisten Kinder. Sein Vater meldet sich irgendwann einfach nicht mehr, die Mutter geht putzen, um sich und ihre beiden Kinder durchzubringen. Pascal ist oft bei den Großeltern, beide starke Alkoholiker, von der Wende vergessene Menschen. Er ist sich sicher, so will er nicht enden. Aber natürlich kommt es anders. Und es sind eben nicht nur die falschen Freunde, wie er sagt, aber da sitzt er schon in der Jugendhaftanstalt Plötzensee. Als er rauskommt, hat sich für ihn nichts geändert. Zweieinhalb Jahre Langeweile, das ist die Strafe. Von Resozialisation keine Spur. Und das, obwohl er in der Haft seinen Schulabschluss nachgeholt und jede Menge Rapsongs geschrieben hat. 

Dieser beeindruckende Film bleibt fast ausschließlich bei Kalle. Nur selten kommen Mutter, Großmutter oder der Bruder zu Wort. So kann man intensiv nachvollziehen, wie sich ein junger Mensch entwickelt, dem Gewalt nicht fremd ist. Zwischen den Interviews stehen ergreifende Animationen von Alireza Darvish, die das Wissen emotionalisieren und aus dem vorwitzigen Raben einen gefährlichen Drachen werden lassen. Bis zum Schluss hofft man, dass dies die Geschichte einer Rettung ist, dass der inzwischen 20-jährige Pascal mit seinem Sohn anders umgehen wird, als er es selbst erfahren hat, und doch ahnt man, dass die Bilder auf dem Spielplatz täuschen. »Der größte Kampf meines Lebens«, sagt Pascal, »ist der gegen mich selbst.« Und das ist sehr großzügig von ihm.

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