Kritik zu Kairo 678
Der wahre Fall der ersten Anklage wegen sexueller Belästigung im modernen Ägypten: Aus der Sicht dreier Frauen zeigt Mohamed Diabs Film, wie sehr solche Vorfälle Symptom der ägyptischen Gesellschaft sind
Der tägliche Weg zur Arbeit ist für Fayza, eine verheiratete Mutter aus Kairo, der Horrortrip pur. Männer nutzen die Enge des überfüllten Linienbusses für den im Volksmund so genannten Zitronentrick: Wie zufällig schmiegt ein Fahrgast sich an sie, doch wenn Fayza sich gegen die sexuelle Attacke des dicht hinter ihr Stehenden zur Wehr setzt, so windet der Mann sich heraus: Die Beule stammt von einer Südfrucht, und wo bitte schön soll er die anders hinstecken als in die Hosentasche!
Folglich hält Fayza den Mund, doch dies wird allgemein als Bereitschaft gedeutet: Sie lebt in einer islamisch geprägten Welt, in der Frauen offiziell auf Händen getragen werden und faktisch als Freiwild gelten. Warum diese Doppelmoral in Ägypten besonders ausgeprägt ist, davon erzählt Mohamed Diabs sehenswertes Regiedebüt. Im Zentrum seines kompromisslosen Films, der mangelndes Budget mit inszenatorischem Geschick ausgleicht, stehen drei Frauen aus unterschiedlichen Schichten. Im Gegensatz zu Fayza hat Seba zwar keine materiellen Sorgen. Doch nach einem Stadionbesuch wurde sie Opfer einer jener Massenvergewaltigungen, die dank der amerikanischen TV-Korrespondentin Lara Logan im Februar 2011 in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt wurde. Mohamed Diab zeigt in seinem Film auf, dass die hinter solchen Übergriffen stehende Geisteshaltung sich wie ein roter Faden durch alle Gesellschaftsschichten zieht. So leidet Sebas Freund, ein Krankenhausarzt, unter der »Schande« so sehr, dass ihm Mitgefühl für das vergewaltigte Opfer selbst völlig fremd bleibt.
Dritte im Bunde ist die liberal erzogene Nelly, die bei der Polizei einen Übeltäter abliefert, der sie aus einem vorbeifahrenden Auto heraus betatschte – doch der Wachtmeister weigert sich, eine Anzeige wegen sexueller Belästigung aufzunehmen. Kairo 678 erzählt die wahre Geschichte der ersten offiziellen Anklage eines sexuellen Übergriffs. Trotz dieser kämpferischen Pointe inszenierte Diab keinen Frauenfilm, der die ägyptische Gesellschaft stereotyp in zwei Lager aufteilt. Präzise Seitenblicke deuten die Befindlichkeit der Männer an, ohne deren Taten zu entschuldigen. Und es wird ebenso nachvollziehbar, warum die drei befreundeten Frauen aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit auch untereinander in Streit geraten.
Trotz dieser Komplexität gerät das Sittenbild nie in die Nähe eines verkopften Thesenfilms. Mit dokumentarisch präzisen Bildern bleibt Kairo 678 dicht bei seinen drei Hauptfiguren, deren Schicksal dank der hervorragenden Darstellerinnen nahegeht. Dabei bündelt Diab all die unterschiedlichen Aspekte in einer humorvoll erzählten Krimihandlung, die in einer schreiend komischen Szene gipfelt: Mehrfach wehrt Fayza sich mit dem Messer, was sich herumspricht und die Grapscher in Panik versetzt. Männer fühlen sich alle schuldig und stellen sich fortan im Bus demonstrativ den Frauen gegenüber in einer Reihe auf. Mit diesem sprechenden Bild deutet Mohamed Diab an, dass nach dem ägyptischen Frühling die eigentliche arabische Revolution noch bevorsteht.
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