Kritik zu Jaurès

Filmclip OmeU © Arsenal Filmdistribution

2012
Original-Titel: 
Jaurès
Filmstart in Deutschland: 
08.08.2013
L: 
83 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Vincent Dieutre hat sich mit seinen eigenwilligen Dokumentarfilmen einen Namen gemacht. Auch in seinem neuen Werk setzt er die dokumentarischen Aufnahmen zu einem poetischen Essay zusammen, das wie beiläufig von Liebe und Verlust handelt

Bewertung: 4
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Es gibt Filme, die so selbstverständlich aussehen, dass jede Erklärung wie eine Beschränkung ihrer Freiheit scheint. Jaurès ist so ein Film. Sogar die Selbstauskünfte von Regisseur Vincent Dieutre im Katalog des Berlinale-Forums zur Uraufführung 2012 klingen im Vergleich zur scheinbaren Leichtigkeit des Films wie umständliche Bedeutungshuberei. Natürlich täuscht dieser schlichte Schein – und schon ein zweiter aufmerksamer Blick lässt ahnen, welche Präzision im Einsatz gewesen sein muss, um die raffinierte Simplizität zu zaubern.

Dabei ist Regisseur Dieutre auch an der Kamera und beim Ton im Einsatz. Und als einer von zwei Hauptdarstellern dieses autobiografischen Filmessays, der im Gespräch mit der befreundeten Schauspielerin Eva Truffaut von einer vergangenen Liebesgeschichte er erzählt. Ort ist ein Tonstudio. Beide schauen sich auf eine Studiowand projizierte bewegte Bilder an, die Dieutre während der Liaison aus der Wohnung des Geliebten gefilmt hat. Es sind Bilder aus der Gegend um die Pariser Metrostation Jaurès, die eine großstädtische Drei- Schichten-Topographie erkunden: ganz oben die Hochbahn, darunter das Straßenlevel, noch tiefer, am Kai des Kanal St. Martin, haben afghanische Flüchtlinge provisorisch ihr Lager aufgeschlagen. Tages- und Jahreszeiten wechseln, so auch die Einstellungsgrößen von der Totalen bis zur Detailaufnahme. Die Flüchtlinge bleiben stumm, abwechselnd kommen mal Polizei oder Sozialarbeiter. Manchmal hört man auch Radioton oder Geräusche aus der Wohnung oder von der Straße. Später spaziert ein paar Mal eine wirklich sehr weiße Taube auf dem Fensterbrett vorbei.

Der Geliebte, Simon, ist ein politischer Aktivist und Sozialarbeiter, der für bürokratische Anerkennung und politische Rechte von Flüchtlingen kämpft. Doch Simon ist (wenn auch schon lange getrennt von seiner Frau) auch Katholik und Familienmensch, der dem homosexuellen Geliebten in seinem Doppelleben nur einen begrenzten Raum und einen begrenzten Zeitrahmen zugesteht. So ist im Glück der intensiven Liebe der Verlust schon angelegt, und die Schichtungen zwischen Ober- und Unterwelten draußen auf der Straße spiegeln die von Simons Bewusstsein. Die Konstruktion solcher Spiegelungen und Überlagerungen setzt sich im Film auf vielen anderen Ebenen fort. In der Montage, die Motive und Geräusche aus Studio, Wohnung und Straße visuell und akustisch mischt und kunstvoll überblendet. In der Dialektik von Draußen und Drinnen, Politischem und Privatem, Hoffnung und Verlust. Einmal erscheint auch im Fenster der Wohnung das Spiegelbild des dahinterliegenden Zimmers, wo eine Person Piano spielt. Ist das der Filmemacher selbst? Oder doch Simon? Falls ja, wäre es sein einziger geisterhafter Auftritt in diesem Film, dessen verbale Ebene unablässig um ihn kreist. Als Liebesfilm ist Jaurès so intim persönlich wie verallgemeinerbar, anrührend wie unsentimental. Als Dokumentarfilm gibt er – ganz ohne Prätention – anspielungsreich zu Fühlund Denkbewegungen in unzählige Richtungen Anlass. Und dann ist er auch ganz einfach (nicht nur für Menschen mit voyeuristischen Tendenzen) ein 83-minütiges Gedicht für Auge und Ohr.

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