Kritik zu Jahrhundertfrauen

© Splendid

2016
Original-Titel: 
20th Century Women
Filmstart in Deutschland: 
18.05.2017
L: 
118 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Das verspätete Coming-out seines Vater machte der amerikanische Independent-Regisseur Mike Mills in seinem Film »Beginners« zum Thema, nun beschreibt er mit autobiografischen Zügen das Aufwachsen bei einer aufgeschlossenen, aber spröden Mutter, umgeben von starken Frauen im Kalifornien der 70er Jahre

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»Jahrhundertfrauen«, das ist doch mal ein angemessen protziger Titel. Einer, der nach Superlativ klingt und »bester Mutter aller Zeiten« respektive »tollster Sexbombe überhaupt«. Oder so ähnlich. Gemeint sind dann aber Frauen verschiedenen Alters, deren Lebenserfahrung, Wahrnehmungshorizont und historische Perspektive ungefähr ein Jahrhundert weiblicher Existenz repräsentieren. Dass das den viel aufregenderen Film ergibt, liegt auf der Hand. Obwohl es natürlich auch hier um Mutterschaft und Sex geht, wie sollte es auch nicht, geht es doch um Frauen. Glaubwürdige, vollständige, wirklichkeitstaugliche Frauen. Im Kino! Insofern ist »Jahrhundertfrauen« also ein sehr ungewöhnlicher Film, und noch ungewöhnlicher mag einem erscheinen, dass ihn ein Mann geschrieben und gedreht hat.

Mike Mills, Filmemacher, Grafikdesi­gner und Musikvideoregisseur, erinnert sich mit diesem Film an seine Mutter. Nachdem er zuvor, mit dem 2010 entstandenen »Beginners«, seines Vaters gedachte, der mit über 70 noch ein Coming-out wagte. Christopher Plummer brachte die Rolle des unternehmungslustigen älteren Herrn seinerzeit einen Oscar ein. Auch Annette Bening hätte einen verdient gehabt, schafft sie in »Jahrhundertfrauen« in der Rolle einer nicht minder eigenwilligen älteren Dame doch ein Charakterporträt aus Sperrigkeit und Anziehung, freundlicher Zuwendung und Rückzug in die Privatheit, das gerade aufgrund seiner Widersprüchlichkeit fasziniert. Denn so aufgeschlossen gegenüber den modischen Trends ihrer Gegenwart – Santa Barbara, Ende der 70er Jahre – diese Dorothea Fields, Jahrgang 1924, sich auch geben mag, sie hütet ihr Innerstes, ruppig und zart, und kann sich ganz verschließen.

Ein Umstand, der wiederum zu Konflikten führt mit Jamie (Lucas Jade Zumann), ihrem 15-jährigen Sohn, der sie kennenlernen möchte und immer wieder an ihr abprallt. Dorothea, fortschrittliche Frau, die sie ist, will, dass aus Jamie ein moderner Mann wird. Nur ist das nicht so einfach, wenn der Vater nicht mithilft, hat der die Familie doch bereits vor einigen Jahren verlassen. Auch William (Billy Crudup), der Handwerker, der Dorothea bei der Instandsetzung ihres schönen alten Hauses zur Hand geht, ist keine große Hilfe. Jamie kann mit dem Späthippie nichts anfangen; dieser rede nur über Werkzeug und Holz, und das sei langweilig. Und es ist, lässt sich ergänzen, weit weg von der Realität eines Teenagers, der davon träumt, dass aus Nachbarstochter Julie (Elle Fanning), seiner besten Freundin, seine feste Freundin wird. Die 17-jährige Julie aber will das Vertrauensverhältnis zu Jamie nicht aufs Spiel setzen, bekanntlich macht Sex ja nur Probleme. Sie erzählt ihm zwar von ihren Abenteuern – es sind nicht wenige –, aber sie lässt ihn nicht ran. Außerdem mit im Haus wohnt die Mittzwanzigerin Abbie (Greta Gerwig), die aus New York zurückkam, um sich von ihrer Gebärmutterhalskrebserkrankung zu erholen.

Das Beziehungsgeflecht, das der Handlung zugrunde liegt, hat mit einem traditionellen Familienentwurf wenig gemein, dafür aber mit den Sichtweisen, Meinungen, Verfassungen von Frauen, mit dem, was sie so fühlen und denken und worüber sie reden. Und ob und wann man sich darauf einen Reim machen kann oder eben nicht. Denn Dorothea bittet Abbie und Julie, ihr bei der Erziehung von Jamie zu helfen, was zu wundersamen Kollisionen führt – von traditionellen Wertvorstellungen und feministischen Neuentwürfen, von Pop und Punk, von Nostalgie und Aufbruch. Gespiegelt in der Wahrnehmung eines leicht irritierbaren, schnell rebellischen, hormongeplagten Halbwüchsigen; kommentiert vom reihum wechselnden Voiceover der Beteiligten; durchwoben von jenen zärtlich-melancholischen Bildmontagen, vermittels derer Mills das Geschehen in einen größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhang einbettet. So wird aus seiner Erzählung über seine Mutter eine Geschichte über Frauen und ihr Jahrhundert.

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