Kritik zu Henry Fonda for President

© Mischief Films

2024
Original-Titel: 
Henry Fonda for President
Filmstart in Deutschland: 
30.01.2025
L: 
184 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Gibt es einen idealeren Gewährsmann als diesen Schauspieler, um von den Vereinigten Staaten zu erzählen, von der demokratischen Hoffnung sowie der Gewalt- und Unrechtsgeschichte, die sich mit ihnen verbinden? Die Antwort von Alexander Horwaths dreistündigem Essayfilm ist ein unabweisbares Nein. Er spannt ein Panorama von Historie und Traumleben der USA, das 1651 beginnt (als Fondas holländische Vorfahren die Neue Welt betraten) und mit seinem Tod 1982 noch nicht endet

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Selbst sein Nacken ist präsidial!«, frohlockte Sidney Lumet einmal, als er sich für einen Audiokommentar den ersten Auftritt des Schauspielers in Angriffsziel Moskau ansah. Er ist in einer nahen Rückenansicht gefilmt, die Ehrfurcht gebietet und Zuversicht weckt. In dem Politthriller, 1964 auf einem Siedepunkt des Kalten Krieges gedreht, verkörpert Henry Fonda einen US-Präsidenten, der um jeden Preis versucht, einen Atomkrieg mit der Sowjetunion zu verhindern. Er steht vor unmöglichen Entscheidungen, aber Fondas Präsident erwägt besonnen jeden weiteren erforderlichen Schritt.

Fonda war einzigartig disponiert für diese Rolle. Sein Gebaren vor der Kamera wirkte vornehm, es war beherrscht und streng. Er überlegte gründlich, bevor er in gemessenem, aufrechtem Gang zur Tat schritt. Das Publikum konnte von 1939 an, als »Der junge Mr. Lincoln« herauskam, mitverfolgen, wie er allmählich in die Rolle des Landesvaters hineinwuchs. In »Sturm über Washington« verkörpert er 1962 einen liberalen Wissenschaftler, dem der Posten des Außenministers angetragen wird. Zwei Jahre später bewirbt er sich in »Der Kandidat« um das höchste Staatsamt der USA. Sein Gegenspieler, ein großmäuliger Populist, hält ihm vor, er würde dieses Land nicht verstehen, weder dessen Wesen noch seine Bewohner. Fondas Figur zieht die Kandidatur aus anderen Gründen zurück. Die Erkenntnis der eigenen Anfechtbarkeit gehört wie die Stabilität zum Grundbestand seiner Leinwandautorität. Das noble Zögern ist in »Angriffsziel Moskau« überwunden, Fonda hat das schwere Mandat angenommen.

Auch jenseits der Kinoleinwand war »Fonda for President« ein Herzenswunsch vieler US-Liberaler, der nach Watergate so drängend erschien, dass er sich sogar in einer fidelen Sitcom artikulierte. Alexander Horwath stellt diesen Traum in seinem Film auf den Prüfstand. Er tut dies aus einer tiefen Kennerschaft der Leinwandpersona Fondas heraus und mit wachsamer Neugier auf die Nation, deren Errungenschaften, Widersprüche und Mythen er repräsentierte. Gemeinsam mit Regina Schlagnitweit (künstlerische Mitarbeit) und Michael Palm (Kamera, Ton, Montage) unternimmt er eine zweifache Reise, die Werk und ein Land durchquert. Die Perspektive ist ausgesprochen europäisch, wird eingerahmt von Zitaten der Philosophin Hannah Arendt und ihres Kollegen Günther Anders. Horwaths präzise geschriebener Kommentar prunkt mit Assoziationsreichtum und Deutungsdichte. Klischees über Amerika ist er stets einen Schritt voraus. Er wechselt sich ab mit Auszügen aus dem letzten Interview, das Fonda 1981 dem Journalisten Lawrence Grobel gab: ein Gegenklang aus erster Hand. Horwath differenziert stets zwischen Privatmensch und Leinwandpersona, es bleibt ein unerklärter Rest, der in »The Unanswered Question« durch Charles Ives einen musikalischen Nachhall findet.

Die filmische Suchbewegung führt eingangs zu den Wurzeln, die die im 17. Jahrhundert aus Holland eingewanderte Familie Fonda an der Ostküste, im späteren Bundesstaat New York, schlugen; in »Trommeln am Mohawk« wird er gewissermaßen einen seiner Vorfahren spielen. Neben den Orten, an denen sich Fondas Biografie zutrug – er wurde nicht weit von dem Air-Force-Stützpunkt aus »Angriffsziel Moskau« geboren –, geht es zu den Schauplätzen seiner bezeichnenden Filme. Das ist kein sentimentaler Dreh–ort-Tourismus, sondern vollzieht sich im achtsamen Blick für Vieldeutigkeit und Kontinuität. In den ehemaligen Lagern der Wanderarbeiter aus Früchte des Zorns wird deren Geschichte engagiert bewahrt; in Fort Apache gedenken die Indigenen ihrer verheerten Vergangenheit. In Tombstone, wo »Faustrecht der Prärie« spielt, wird die Legende Wyatt Earps als Volksfest fortgeschrieben. Schlagnitweits Recherchen sind Wunder des Auffindens zu verdanken: Dieselbe Brücke, die die Familie Joad in »Früchte des Zorns« auf dem Weg nach Kalifornien überquert, passiert Peter Fonda später in »Easy Rider«.

Diese gescheit schaulustige Feldforschung amerikanischer Mentalitäten geht einher mit einer Interpretation dessen, was Fondas Filmrollen über sie mitteilen. Als Kind musste er mitansehen, wie ein Mob einen Schwarzen tötete. Als junger Abraham Lincoln wird er auf der Leinwand einen solchen Lynchmord verhindern; in Ritt zum Ox-Bow gelingt dies nicht. Die großen Ausdruckslinien, die sich trotz zahlreicher Brüche durch das Werk des Schauspielers ziehen, weisen ihn gleichermaßen als einen Repräsentanten wie als ein Korrektiv aus. Oft genug verkörpert Fonda den »untypischen« Amerikaner, der zögert. Nicht von ungefähr heißt das Kriegsschiff aus »Mister Roberts«, wo er eine Paraderolle spielt (für die er unerhörterweise ein halbes Jahrzehnt Abschied von Hollywood nimmt, um auf der Bühne zu stehen), Reluctant. In Fondas Charakteren artikuliert sich, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, eine tastende Nachdenklichkeit, ein sonst uneingestandener Zweifel. Ihr Spielraum ist das unruhige Gewissen. Ihnen eignet eine Redlichkeit, die sie für das Recht streiten lässt – kaum je für das des Stärkeren und meist im Angesicht der Vergeblichkeit. Der frohlockende Materialismus seiner Landsleute ist nicht Fondas Sache.

Horwath ruft ihn als den Auteur seiner Filmauftritte auf. Es dauert eine halbe, wohltuende Ewigkeit, bevor der erste Name eines Regisseurs fällt. Fonda drückt sich aus in den Figuren, die er zeichnet. Selten trägt er Ideologie auf der Zunge, aber er teilt seine Überzeugungen mit. In der heute weitgehend vergessenen Theaterverfilmung »The Male Animal« (wiederum ein Beispiel tiefschürfender Recherche) zitiert er als Englischprofessor den Anarchisten Bartolomeo Vanzetti, der in einem umstrittenen Schauprozess in den 1930ern zusammen mit Nicola Sacco zum Tode verurteilt wurde. Fürwahr, dieser Schauspieler füllte eine Lücke in der Politik des Landes, das er nie regieren wollte.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt