Kritik zu Halbschatten
Erzählen mit Leerstelle: Anne Ratte-Polle verkörpert im Spielfilmdebüt des Schauspielers Nicolas Wackerbarth eine Autorin, die in die Ferienvilla ihres Verlegers reist, diesen dort aber nicht antrifft
Die Côte d'Azur hat man sich anders vorgestellt. Der Himmel ist grau. Irgendwo unten in der Bucht schwelt ein Laubfeuer und verqualmt die ganze Gegend. Das Grundstück ist mit einer hohen Mauer und einem stabilen Holztor gegen Blicke und potenzielle Eindringlinge gesichert. Hier im Hang steht ein Feriendomizil neben dem anderen. Erst wenn sie im Wohnzimmer steht, eröffnet sich für Merle (Anne Ratte-Polle) der Blick aufs Meer, mit dem der Pool auf der Terrasse zu verschmelzen scheint. Merle ist in das Ferienhaus des Verlegers Romuald eingeladen worden, aber als sie vor dem Holztor steht, ist der Gastgeber nicht da. Der Hausbetreuer taucht verspätet auf und führt die Besucherin zum Gästezimmer. Der Hausherr sei übermorgen wieder zurück und seine beiden jugendlichen Kinder gerade am Strand. Merle schaut sich um und richtet sich ein. Die Kamera schaut ihr dabei mit geduldigem Blick zu, so wie sie für den Rest des Films zum aufmerksamen Beobachter einer Wartenden wird.
Als einen »Thriller über einige ereignislose Tage« bezeichnet Nicolas Wackerbarth sein Spielfilmdebüt »Halbschatten«. Das ist vielleicht etwas hoch gegriffen, beschreibt aber gut das Spannungsfeld des Films, der nicht von einer aufwendigen Plotkonstruktion zehrt, sondern über genau konstruierte und beobachtete Details funktioniert. Nur häppchenweise werden die spärlichen Informationen über diese Merle preisgegeben, die offensichtlich die derzeitige Geliebte des Verlegers ist und an einem Buch über eine Botanikerin im 19. Jahrhundert schreibt. Sie will sich einleben, aber Romualds Kinder Emma (Emma Bading) und Felix (Leonard Proxauf) kanzeln die »Neue« des Vaters mit einer Gnadenlosigkeit ab, wie es nur pubertierende Jugendliche fertigbringen. Sätze wie »Bist ganz schön braun geworden. Ist dir wichtig, oder?« werden wie giftige Pfeile verschossen und Merle tut sich schwer in der Konfrontation mit der potenziellen Stiefkinderbrut einen Weg zwischen Anbiederung und Selbstbehauptung zu finden.
Wackerbarth hat seine filmische Erzählung um eine Leerstelle herumgebaut, denn Romuald (Henry Arnold) wird erst zurückkommen, wenn der Film schon fast zu Ende ist. Bis dahin ist er der große Abwesende, der sich hinter seiner Mailbox verschanzt. Auch als er zum Geburtstag seiner Tochter anruft und das Telefongespräch mit Merle eskaliert, bleibt seine Stimme ausgeblendet. Die vernichtende Wirkung seiner Worte wird dennoch sichtbar, auch für die Kinder, die danebensitzen und ihre aggressive Abwehrhaltung gegen Merle plötzlich aufgeben.
Für ein Debüt überraschend präzise arbeitet Wackerbarth, dessen Stil sehr deutlich von der Berliner Schule beeinflusst ist, hier mit dieser indirekten, über Auslassungen funktionierenden Erzählweise. Genauso wie Merle sich in einem unbekannten Lebensraum ausprobiert, hält dieser ruhige und genau konstruierte Film die Denk- und Assoziationsräume für das Publikum offen – und es gibt kaum eine Schauspielerin, der man darin so interessiert beim Warten und Suchen zuschaut, wie Anne Ratte-Polle.
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