Kritik zu Europe

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Dokumentarfilmer Philip Scheffner setzt in seinem ersten Spielfilm eine der Protagonistinnen aus seinem »Havarie« nun als fiktionalisierte Heldin ins Zentrum

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Den ersten Eindruck der Heldin geben zwei Röntgenbilder ihrer deformierten, von Stahlklammern gehaltenen Wirbelsäule. Dann schaut die Kamera aus dem Obergeschoss durch die gläserne Fassade auf den Vorplatz eines modernen Krankenhauses. Aus dem Off sind Regieanweisungen zu hören (»den Bus losfahren...«). Und ein Dialog – vermutlich zwischen dem Filmemacher und seiner Hauptdarstellerin – über ihr Verhältnis zu ihrer Rolle. Währenddessen sehen wir sie unten aus dem angekommenen Bus steigen und Richtung Eingang laufen.

Im folgenden Gespräch mit ihrem Arzt zeigt Zohra Hamadi Humor und Selbstbewusstsein. Sie bekommt die gute Nachricht, dass sie keine weiteren Operationen benötige. Als ihr auf dem Heimweg im Bus der Fahrer eine »Kämpfernatur« attestiert, lächelt Zohra stolz. Später erzählt sie den aus Algerien nach Frankreich eingewanderten Verwandten und dem Ehemann von ihrem Glück. Per Telefon, denn der ist noch in der alten Heimat, soll aber nach Zohras anstehender Aufenthaltsverlängerung nachkommen. Dann liegt stattdessen die Aufforderung zur Ausreise in der Post, da es nach der gesundheitlichen Besserung keinen Grund mehr für den Aufenthalt in Frankreich gebe.

»Europe« heißt die Bushaltestelle, an der Zohra aussteigt. Das ist dokumentarisches Finderglück, auch wenn »Europe« der erste Spielfilm von Philip Scheffner ist. Denn die Haltestelle »Europe« gibt es auf der Buslinie vom »Hôpital« zum »Forêt« im südwestfranzösischen Châtellerault wirklich. Und auch sonst gründet der Film auf dokumentarischer Recherche – und kann im weiteren Sinn als Spin-off von »Havarie« verstanden werden, wo der Filmemacher Berichte der jungen, nach Frankreich migrierten Algerierin Rhim Ibrir in das aus dem Off erzählte Tonbild einflicht.

Nun rückte das Team um Scheffner und Autorin Merle Kröger die junge Frau ins Zentrum des nächsten Projekts. Ein »klassisch dokumentarisches Vorgehen« hätte dabei aber die reale Situation der Heldin in der durch die Ausweisung erzwungenen Illegalität nur verschleiert, meint Scheffner im Interview. So kam es zu der Entscheidung, die »staatlich erzwungene Fiktionalisierung« von Rhims Leben auch als Fiktion zu erzählen und durch narrative Leerstellen zusätzlich zu verunsichern.

Aus Rhim Ibrir wird die Figur Zohra. Und diese wiederum verschwindet zeitweilig als Person ganz aus dem Film, bevor sie als Wachträumerin zurückkehrt: Ein in Scheffners Erläuterungen einleuchtendes, aber auch akademisches Konzept, das ohne solche Erklärungen eher als Installation in einem Kunstraum denn in der Wahrnehmungspraxis des Kinopublikums funktionieren dürfte. Stark ist »Europe« dennoch wegen der eindrücklichen Präsenz von Darstellerin Rhim Ibrir. Und dann ist da die Freude an der eleganten szenischen Auflösung (siehe Anfang) und der Kamera­arbeit von Volker Sattler, dessen Kadrage mit langen, unbewegten Einstellungen, Lichtsetzung und tiefengestaffelten Rahmungen auf Transparenz statt Sozialrealismus setzt.

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