Kritik zu Eine Sekunde
Die Premiere von Zhang Yimous Film auf der Berlinale wurde vor drei Jahren wegen angeblicher »technischer Probleme« abgesagt. Der Film selbst handelt auch von deren Überwindung
Warum nur ringen die zwei so erbittert um die Filmbüchse? Die junge Stromerin Liu (Liu Haocun) hat sie nach der Vorstellung gestohlen, der mysteriöse Fremde Zhang (Zhang Yi) will sie ihr um jeden Preis entreißen, damit sie rechtzeitig in das nächste Kino gelangt, wo sie vorgeführt werden soll. Sie kämpfen erst mit den Fäusten um den Schatz, dann zückt Liu ihr Messer.
Die ersten Breitwandtableaus, in denen Zhang einsam durch die Sanddünen der Wüste Gobi wandert, stimmen darauf ein, dass es in »One Second« um Elementares gehen wird. Durst und Hunger überkommen den Wanderer erst, nachdem er überprüft hat, dass die Kinovorstellung tatsächlich vorüber ist. Sein Kampf mit der Filmdiebin ist eine ruppige Pantomime, der Film weiht uns erst später in die Beweggründe der Kontrahenten ein. Es ist auch ein Streit um Material und Inhalt. Zhang ist aus dem Arbeitslager geflohen, weil er aus einem Brief erfuhr, dass seine Tochter kurz in der »Wochenschau Nr. 22« zu sehen ist (man ahnt, was es mit dem Filmtitel auf sich hat), die in der Provinz zirkuliert. Nach der Verurteilung ließ seine Frau sich von ihm scheiden, er hat keinen Kontakt mehr mit der Tochter. Die Waise Liu wiederum möchte für ihren kleinen Bruder einen Lampenschirm aus Filmstreifen basteln.
Auf verschlungenen Wegen kommt die Filmrolle im nächsten Ort beim Filmvorführer »Movie Man« (Fan Wei) an. Er ist ein strenger Pädagoge und ein stolzer Unterhalter. Seine Arbeit verleiht ihm im Dorf hohes Ansehen. Er stillt den namenlosen Hunger nach bewegten Bildern. Ihr Inhalt ist für das Publikum zweitrangig – den Propagandaschinken »Heroische Söhne und Väter« sieht es zum x-ten Male und singt die patriotischen Lieder freudig mit –, es applaudiert allein schon dem Zauber der Vorführung. Nachdem die Wochenschau beim Transport entrollt und zerkratzt wurde, wirkt das gesamte Dorf an ihrer Restaurierung mit. Der Gemeindesaal verwandelt sich in ein Filmlabor, wo der Streifen mit fachkundiger Sorgfalt und allgemeiner Ehrfurcht gereinigt und getrocknet wird. Zhang ist fassungslos, als er den Sekundenauftritt seiner Tochter sieht; er erkennt sie nicht wieder. Mit Lius Messer zwingt er den Vorführer, ihn wieder und wieder zu zeigen. Erneut erweist sich, wie einfallsreich der »Movie Man« sein Zauberhandwerk beherrscht. Nun finden alle Themen des Films ihr Bindeglied. Es ist die Fürsorge.
Auf den ersten Blick erstaunt es, dass die chinesische Zensur »One Second« als problematisch einstufte. Das Tabuthema der Kulturrevolution bleibt im Hintergrund, das Pathos des vorgeführten Propagandafilms desavouiert Zhang nicht. Er wirft eher sachte Schlaglichter auf eine Gesellschaft, in der Misstrauen, Ausgrenzung und Gehorsam herrschen. In die Kinos kommt die mittlerweile dritte Schnittfassung seines Films. Sie ist eine Minute kürzer, einige Szenen hat er nachgedreht. Vielleicht wurden sie dabei entschärft. Ebenso gut möglich ist, dass er mit dem Schluss unzufrieden war. Nun hat er gleich mehrere Enden, in denen sich Verlust und Zuversicht die Waage halten.
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