Kritik zu Die Amitié
Teils konventionell, teils experimentell erzählt der Film von einer geheimen Datenbank, die den mehr oder weniger legal in Deutschland lebenden Menschen Hilfestellungen geben will
Ohne Menschen wie die beiden, die zufällig zusammen in einem Bus nach Lübeck sitzen, gäbe es hierzulande ein Problem: Agnieszka (Sylwia Gola), die junge polnische Altenpflegerin, ist im Auftrag ihres katholischen Mutterhauses unterwegs zu ihrem betuchten Klienten Siegfried (Walter Hess). Die Zeit im Bus vertreibt sie sich mit einem Buch von Papst Johannes Paul II.: »Gott segne dich, Afrika«.
Auf der anderen Seite von ihr sitzt Dieudonné (Yann Mbiene), Mittzwanziger von der Elfenbeinküste, der, obwohl studierter Ökonom, für kleines Geld die Tomaten eines holländischen Konzerns nahe Lübeck pflücken soll. Die Tomatenplantage seines Vaters ist an ebendiesen subventionierten holländischen Früchten zugrunde gegangen. Dieudonnés Sicht auf Afrika ist weniger religiös, er liest »Schwarze Haut, weiße Masken« von Frantz Fanon, dem politischen Philosophen und Vordenker der Entkolonisierung.
Der Film des Kollektivs Amitié beginnt wie eine Geschichte über Ausbeutung: Dieudonné erhält von der resoluten Geschäftsführerin Sylvie (Anna Stieblich) weniger als den vereinbarten Lohn. Agnieszka wird von Siegfrieds Sohn Carsten (Christoph Bach), einem vielbeschäftigten Professor, gebeten, doch auch bitte noch den Rasen zu mähen.
So weit, so geläufig. Doch unter dieser Oberfläche tut sich etwas. Dieudonnés Kollege Osman (Aziz Çapkurt) ist Teil eines Netzwerks, »Amitié« genannt, das Daten aus den Internetkontakten illegal oder legal eingereister Menschen sammelt, Informationen zu Fluchtrouten, zu den Einsatzorten, zur Infrastruktur vor Ort, den Möglichkeiten von Geldtransfers, zum Gesundheitssystem, dem Bedarf an Arbeitskräften, also eine Art digital-subversive Bundesanstalt für Arbeit und Soziales, der schließlich auch Agnieszka beitritt. Ihr Mutterhaus hatte den Vertrag mit Siegfried gekündigt, weil dieser in seiner Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen ablehnte. Damit betrachtet Agnieszka auch ihr Keuschheitsgelübde als aufgekündigt und freundet sich mit Dieudonné an.
Was hier wie eine lineare Erzählung klingt, ist mit zunehmender Dauer eine Achterbahnfahrt mit surrealistischen Elementen, die sich um Wahrscheinlichkeit wenig schert. Irgendwann kreuzt ein schräger Polizist auf, der das Schleuserunwesen unterbinden will. Am Ende liegt er, warum auch immer, tot in Siegfrieds Keller. In diesem ist, woher auch immer, zwischenzeitlich eine Gruppe Geflüchteter eingezogen. Und während Siegfried ebenfalls tot auf seinem Bett liegt, sitzt er gleichzeitig in einem Auto, das wenig später im Rückwärtsgang zu seinem Haus rast. Wie bei Siegfried lösen sich auch im Film die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit auf. Dazwischen geschnitten sind Bilder von bizarren, computeranimierten Landschaften, in denen immer wieder Versatzstücke der Realität auftauchen, Bilder, die an zerstörte Städte erinnern, dabei so quietschbunt, als wäre man auf einem Psychotrip. Schöne neue Welt oder Horrortrip, Scherz, Satire oder tiefere Bedeutung? Wer weiß.
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