Kritik zu Defamation
In seinem preisgekrönten Dokumentarfilm forscht der isrealische Filmemacher Yoav Shamir (»Checkpoint«; »Flipping Out«) dem Phänomen des Antisemitismus nach
»Nazi, Holocaust, Antisemitismus«, das sind laut Yoav Shamir drei Worte, mit denen er in den israelischen Medien Tag für Tag konfrontiert wird. Da er jedoch als Jude in Israel noch nie persönlich mit Judenfeindlichkeit konfrontiert wurde, begab Shamir sich für seinen Film Defamation auf eine Reise in die USA und nach Europa, um herauszufinden, was es mit dem in seiner Heimat so oft thematisierten Phänomen des weltweiten Antisemitismus auf sich hat.
Shamir begleitet Abraham Foxman, den Vorsitzenden der einflussreichen amerikanischen Anti Defamation League (ADL), bei dessen Trips zu diversen europäischen Regierungschefs; er reist mit einer israelischen Schulklasse zu KZ-Gedenkstätten in Polen; und er interviewt Wissenschaftler, Rabbiner und jüdische »Normalbürger« in Amerika und Russland zu ihrer Einsätzung des modernen Antisemitismus und dem Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust.
Wer dachte, dass Juden jenseits aller politischen Differenzen und religiösen Schattierungen zumindest in der Einschätzung der Gefahren des Antisemitismus weitgehend einer Meinung wären, der wird in »Defamation« eines Besseren belehrt. Das Spektrum reicht bei den Befragten von der Behauptung einiger Moskauer Juden, es gebe praktisch keinen Antisemitismus mehr, obwohl ihre Synagoge erst kurz zuvor von einem Angreifer heimgesucht wurde, bis hin zur Statistik der ADL, die allein in den USA 1500 antisemtitische Vorfälle pro Jahr registriert – deren New Yorker Zentrale aber paradoxerweise nicht in der Lage ist, Shamir auch nur einen einzigen Fall zu nennen, den er exemplarisch in seinem Film präsentieren könnte.
Wie dramatisch die Bedrohung durch Antisemitismus gesehen wird, scheint in direktem Zusammenhang mit der politischen Haltung oder der Religiosität der Befragten zu stehen: Je religiöser oder je »linker« Shamirs Gesprächspartner, desto weniger scheinen sie Antisemitismus als reale Gefahr zu empfinden. »Ich habe Gott, ich brauche keine Antisemiten«, sagt ein Moskauer Rabbiner, ein provokativer Gedanke, der gleichwohl von zwei älteren, säkular lebenden ADL-Mitgliedern bestätigt wird, für die der Kampf gegen den Antisemitismus nach eigener Aussage eine identitätsstiftende Funktion hat. Auf der anderen Seite erklärt der Friedensaktivist Uri Avnery, einst ein radikaler Zionist, Antisemitismus in Amerika kurzerhand für nichtexistent. Ähnlich sieht das auch der umstrittene Wissenschaftler Norman Finkelstein (»Die Holocaust-Industrie«), der im Film als eine Art Gegenpol zu Abraham Foxman präsentiert wird. Finkelstein wittert seinerseits eine Verschwörung der konservativen amerikanischen Juden, allen voran Foxman, die die Israelkritiker als Antisemiten diffamieren und die Erinnerung an den Holocaust schamlos ausnutzen würden, um den Friedensprozess im Nahen Osten zu torpedieren.
Wenngleich Yoav Shamir eher dem »linken« politischen Spektrum zuzuordnen ist, liegt die Stärke seines Films darin, dass er allen Seiten mit einer betont naiven Unvoreingenommenheit begegnet. Er zeigt Verständnis und Respekt für das Engagement des Holocaust-Überlebenden Foxman, blendet dessen selbstgefällige Machtspiele jedoch ebenso wenig aus wie die abstrusen Äußerungen des offensichtlich schwer verbitterten Finkelstein oder den friedensbewegt-naiven Tunnelblick von Uri Avnery. Es gibt, so eine Erkenntnis des Films, kein »richtig« und kein »falsch« in diesen Fragen – aber viel zu viele radikale, unversöhnliche Positionen auf beiden Seiten.
Angesichts seiner jungen Landsleute, der israelischen Schüler, die von kleinauf einer erschreckenden Indoktrination als ewig und überall verhasste Opfer ausgesetzt sind, stellt Shamir sich am Ende jedoch ebenfalls die Frage, ob der aktuelle Umgang mit der Holocaust-Erinnerung und dem Phänomen des Antisemitismus möglicherweise einer Lösung des Nahostkonflikts im Weg steht. »Vielleicht macht uns unsere Vergangenheit gleichgültig gegenüber dem Leid der Palästinenser«, sagt eine der Schülerinnen auf der Polenreise nachdenklich, »weil wir denken, dass uns selbst damals ja noch viel Schlimmeres wiederfahren ist.« Shamir ist klug genug, keine wohlfeilen Antworten auf solche Fragen zu versuchen. Sein Film ist ein Denkanstoß, und das ist angesichts der aktuellen Situation in Israel und Palästina schon eine ganze Menge.
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