Kritik zu Das Mädchen, das die Seiten umblättert
Denis Dercourts Thriller aus dem Milieu der Kammermusiker
Wenn man erfährt, dass Hollywood schon die Remakerechte an einem aktuellen französischen Kassenerfolg erworben hat, keimt rasch der Verdacht auf, der Filmemacher habe von Anfang an auf diesen Markt geschielt und sein Drehbuch so formelhaft konstruiert, dass es sich bei Storykonferenzen mit weniger als 25 Worten verkaufen lässt. In Amerika müsste dann nur noch der Makel getilgt werden, dass der Stoff zunächst mit ausländischen Darstellern verfilmt wurde.
Es fällt nicht schwer zu verstehen, weshalb Hollywood einem Sujet wie diesem nicht widerstehen kann. Es wirkt wie eine wohlkalkulierte Mischung aus Originalität und Vertrautem. Die Personenkonstellation klingt auf den ersten Blick so, als habe jemand »Alles über Eva« ins Milieu der Kammermusiker verlegt und sich darüber hinaus von der Rachedramaturgie von »Die Hand an der Wiege« inspirieren lassen.
Die zehnjährige Melanie hat sich ehrgeizig auf die Aufnahmeprüfung fürs Konservatorium vorbereitet. Als eine der Jurorinnen, die gefeierte Konzertpianistin Ariane Fouchécourt (Catherine Frot), während des Vorspielens ein Autogramm gibt, kommt Melanie ins Straucheln und scheitert. Das rigorose, entschlossene Mädchen gibt daraufhin ihre Klavierkarriere auf. Zehn Jahre später begegnen wir Melanie wieder. Sie ist eine hübsche junge Frau geworden, die ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei macht. Deborah François, (die junge Mutter aus »Das Kind der Brüder Dardenne«) verleiht ihr die nachgerade kierkegaardsche Herzensreinheit einer Figur, die nur einen einzigen, ungebrochenen Wunsch hegt.
Als Melanies Chef (Pascal Greggory) eine Babysitterin für den Sohn sucht, da seine Frau ein wichtiges Konzert vorbereitet, beginnen sich vorm Auge des Zuschauers die Konturen eines ausgeklügelten Racheplans abzuzeichnen: Ja, es ist die gedankenlose Jurorin aus dem Prolog. Melanie macht sich bald im Haushalt unentbehrlich und wird dank ihrer Musikkenntnisse zu einer unverzichtbaren Stütze für die Pianistin, indem siederen Notenblätter beim Spielen umblättert. Die Möglichkeiten zur Rache scheinen mannigfaltig. Längst hat jedoch eine moralische Umkehrung stattgefunden. Ariane ist zwar immer noch gebieterisch und egozentrisch, nach einem Unfall jedoch beruflich wie privat aus dem Takt geraten. Dem Comeback fiebert sie bang entgegen. Trotz ihrer Erfahrung und langen Karriere steht sie ihrerseits nun vor einer Prüfungssituation.
Denis Dercourt, der neben seiner Regiekarriere Bratsche spielt und am Konservatorium von Straßburg unterrichtet, hat einen kühl kalkulierten Thriller inszeniert, dem alles Überflüssige entzogen ist, in dem jede Szene einen Indizienbeweis liefert oder eine rätselhafte Spur auslegt. Sein Drehbuch steckt voller kluger Symmetrien, besitzt eine Klarheit und tückische Transparenz, die Raum schaffen für moralische Ambivalenzen. Ariane und Melanie zeichnet er als komplementäre Figuren. Die junge Assistentin versteht es, unterschiedlichste Begierden zu wecken und sogleich abzustrafen. Die Ältere begibt sich allmählich in eine emotionale Abhängigkeit zu ihr. Sie weckt in ihr Gefühle, die sie sich zuvor nie erlaubt hätte, nicht zuletzt, weil sie damit ihre bürgerliche Existenz auf Spiel setzen würde. Im Machtkampf der Frauen steckt insgeheim auch eine Vergeltung der Klassengegensätze, den Dercourt freilich ohne chabrolsche Beharrlichkeit entfaltet. Immerhin erweist er dem offenkundigen Vorbild eine verschmitzte Reverenz. Melanies Vater hat den gleichen Beruf wie eine der berühmtesten Chabrol-Figuren: Er ist Schlachter.
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