Kritik zu Begegnungen nach Mitternacht

© Salzgeber

2013
Original-Titel: 
Les rencontres d'après minuit
Filmstart in Deutschland: 
10.07.2014
L: 
98 Min
FSK: 
16

Yann Gonzalez wandelt mit seinem irrwitzig-schönen Cine-Nocturno gekonnt auf den Spuren Jean Cocteaus. Sein Film folgt ganz und gar einer Logik der Träume

Bewertung: 4
Leserbewertung
5
5 (Stimmen: 1)

Der erste lange Spielfilm des Filmemachers, Kritikers und Musikers Yann Gonzalez beginnt mit einer unglaublichen Szene, die den Zuschauer sogleich in eine andere Welt versetzt, eine traumhafte Welt der Liebe und des Todes, der unendlichen Traurigkeit und der grenzenlosen Sehnsucht. Eine junge Frau kauert im strömenden Regen auf dem Beifahrersitz eines mythischen Motorrades, geklammert an den Körper eines maskenhaft wirkenden Bikers. Verzweifelt ruft sie nach ihrem Geliebten namens Matthias, der im fernen Hintergrund aufzutauchen scheint. Ein Ruf, ein Schrei auf Leben und Tod. Doch der Biker kann nicht mehr warten, mit aufheulendem Motor verlässt er den regnerisch-unheimlichen Ort, der die Grenze zum Totenreich sein könnte.

Dieser furiose Prolog verweist deutlich auf ein ganz spezielles französisches cinéma fantastique, in dem sich Hochkunst und Trash, Experiment und Exploitation so stark durchdringen wie Eros und Thanatos. Jean Cocteau mit seinem Orpheus-Zyklus gehört zu diesem poetisch-magischen Kino, Alain Robbe-Grillet und gewiss der sublime Schockmeister Jean Rollin. Diese Tradition eines bizarren Traumkinos setzt also Yann Gonzalez fort.

Als Traum im Traum entpuppt sich gewissermaßen der Auftakt des Films. Die junge Frau jenseits jeglichen Alters, die Ali genannt wird, hat ihren schönen Geliebten Matthias nicht verloren. Sie lebt mit dem melancholischen jungen Mann, der so bleich ist, dass er zu entschwinden droht, und einer Gouvernante, die Udo heißt, und vielleicht ein Transvestit oder Transsexueller ist, in einem Anwesen zusammen, in dem sich Modernität und gothic vermischen. Diese drei bilden ein Trio außerhalb der Zeit und jenseits aller geschlechtlichen Grenzen, eine bisexuelle jeunesse dorée der Ewigkeit.

Melodramatisch ist Gonzalez’ Film schon durch den Klang der Stimmen der Akteure, die die Dialoge wie Songtexte rezitieren. Zudem gibt es im Anwesen von Ali und Co eine ominöse Musicbox: Man berührt sie mit der Hand und sie spielt dann automatisch eine Musik, die der Stimmung des Berührenden entspricht.

Für die »Twilight Zone« nach Mitternacht erwartet das wunderliche Trio einige merkwürdige Gäste, die zuerst Typen gleichen: Typen wie aus der Commedia dell’Arte oder dem Porno. Es treten auf: die junge Schlampe und der Hengst, der Teen-Boy und die alternde Diva. Jeder dieser Gäste hat eine Geschichte zu erzählen, die dann wie ein Film im Film aufblitzt. Dem Hengst, der in einem wilden Besetzungscoup von dem Exkultfußballer Eric Cantona verkörpert wird, gehört eine wahrlich tragikomische Story. Er, der einst ein Poet sein wollte, besitzt den größten und schönsten Penis der Welt. Reduziert auf sein markantes Geschlechtsteil wird er bewundert und schikaniert, u. a. von Beatrice Dalle als sadomasochistischer Kommissarin der Begierde.

Gonzalez’ Film lehrt den Zuschauer wieder das Staunen. Man wird an ihm herumnörgeln, an diesem angreifbaren, unschuldigen, mutigen Film, der einen Gegenpol bildet sowohl zum Naturalismus eines Lars von Trier als auch zur Prüderie der Twilight-Saga.

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