Kritik zu Another Earth
Alternative Realitäten, parallele Welten: ein beliebtes Thema der Science Fiction. Mike Cahill (Boxers and Ballerinas) schlägt daraus in seinem Spielfilmdebüt über eine junge Frau, die nicht nur ihr eigenes Leben verpfuscht hat, dramatische Funken
In einem Moment scheint alles möglich, im nächsten nichts mehr. Voller Leben und Hoffnung für die Zukunft feiert Rhoda Williams mit ihren Freunden, kurz darauf zerschellen alle Pläne im Aufeinanderprall zweier Autos auf einer nächtlichen Kreuzung. Wankend und zitternd steht Rhoda vor den Leichen eines Kindes, einer schwangeren Mutter und dem im Koma liegenden Vater. Als sie ihren Blick suchend in den Nachthimmel richtet, erblickt sie dort neben dem Mond eine zweite Erde. Es ist, als wäre sie aus der Welt herausgefallen, aus ihrer eigenen allemal.
In seinem letzten Roman »1Q84« erzählte der japanische Schriftsteller Haruki Murakami von einer jungen Frau, die aus einem Stau heraus, über eine Treppe von der Autobahnbrücke aus einer Version des Erdenlebens unbemerkt in eine andere schlüpft. Nun stellen auch der Regisseur und Autor Mike Cahill und die Schauspielerin und Koautorin Brit Marling die Frage, was wäre, wenn es eine parallele Erde gäbe, ein leicht verschobenes, anderes Leben, in dem die gleichen Menschen andere Möglichkeiten hätten.
Ähnlich wie ihre gemeinsame Dokumentation über Boxers and Ballerinas in Kuba und Miami kreist auch Another Earth um die Idee paralleler Welten. Die wissenschaftliche Realität seiner National Geographic-Dokumentationen katapultiert Mike Cahill in seinem Spielfilmdebüt mit einem minimalen Budget von 100 000 Dollar in ein Science-Fiction- Szenario, das zugleich ein philosophisches Gedankenspiel über zweite Chancen und alternative Realitäten ist. Um ein anderes Konzept von Welt und Wirklichkeit zu gerieren, braucht er keine bombastischen Effekte. Es genügt schon, eine zweite Erde an den Himmel zu projizieren und vom Rande der Ereignisse aus Radio und Fernsehen immer wieder Nachrichtenmeldungen einzuspeisen, die vom Phänomen der zweiten Erde berichten. Zugleich ahnt man, dass diese zweite Erde nichts anderes sein könnte als die Wunschvorstellung einer zutiefst traumatisierten jungen Frau, die jäh aus der jugendlichen Unschuld gerissen wurde.
Nach vier Jahren wird Rhoda aus der Jugendhaft entlassen. Unfähig, die losen Enden ihres alten Lebens wieder aufzunehmen, sucht sie einen Job, bei dem sie nicht nachdenken muss – statt zu studieren, putzt sie im College. Auf der Suche nach Erlösung zieht es sie fast zwanghaft zu dem überlebenden Familienvater, dem ehemals erfolgreichen Musiker John Burroughs, der ähnlich aus der Bahn geworfen ist wie sie und ein trostloses Leben in seinem verwahrlosten Haus fristet. Eigentlich ist sie gekommen, um sich zu entschuldigen, doch dann fehlen ihr der Mut und die Worte, stammelnd bietet sie als Werbeaktion einer Reinigungsfirma kostenlose Probestunden an. So beginnt eine gefährliche Annäherung zwischen zwei Menschen, deren schicksalhafte Verknüpfung sie zugleich zu Seelenverwandten und zu Todfeinden macht. Dabei trägt William Mapother die brütende Bedrohlichkeit, die schon seine Rolle in der Fernsehserie »Lost« auszeichnete, in den Film, und Brit Marling brilliert in einem atemraubenden Balanceakt zwischen fragiler Verletzlichkeit und zäher Stärke. Stetig treiben diese beiden Menschen auf eine Katastrophe zu, die zugleich Erlösung sein könnte.
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