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»Nosferatu, eine Symphonie des Grauens« (1922)

»Nosferatu, eine Symphonie des Grauens« (1922)

V wie Virus. Oder Vampir

»Cinema closed until real life doesn't feel like a movie«, hatte ein findiger Kinobesitzer am Anfang des Corona-Shutdowns statt eines Filmtitels mit Steckbuchstaben auf die Anzeigetafel geschrieben. »Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass wir die Werke der postapokalyptischen Science-Fiction-Literatur in die Abteilung für aktuelles Zeitgeschehen verlegt haben«, war im Fenster einer Buchhandlung zu lesen. In den Weltuntergangsszenarien des Kinos hatten sich Science-Fiction und Realität bereits gefährlich angenähert, bis sie dann im Frühjahr 2020 kaum noch zu unterscheiden waren. Plötzlich taugte das Kino zur Blaupause für die Wirklichkeit.

Auch die Literatur- und Filmhistorikerin Elisabeth Bronfen hat den coronabedingten Stillstand der Zeit genutzt, um sich Rat, Orientierung und Inspiration aus Romanen und Filmen zu holen. Entstanden ist ein sehr lesenswertes Büchlein, in dem Bronfen allerlei originelle Lesarten von Texten und Bewegtbildern ausbreitet und beweist, dass wissenschaftliches Denken keineswegs trocken und spröde daherkommen muss. Sie versammelt amüsante Beobachtungen, etwa zu einem angeblich von F. Scott Fitzgerald verfassten Brief, den ein Satiriker zusammenfabuliert hat. Sie vergleicht die Virusstrategien von Politikern wie Macron, Merkel und Trump. Sie setzt sich mit Freud auseinander und rekonstruiert den Fall der legendären Typhoid Mary. In gründlichen Analysen und Interpretationen von Erzählverläufen in Literatur und Film schlüsselt sie fiktive Krankheitsverläufe zeitgemäß auf, in historischen Romanen wie Albert Camus' »Die Pest«, in Geschichtensammlungen wie Boccaccios »Decamerone« oder aktuellen Aufsätzen wie jenem, den Siri Hustvedt im April in der »Financial Times« veröffentlichte. Dazu kommen Filme, die Virenszenarien fiktiv durchspielen und jetzt verblüffende Erkenntnisse bereithalten, wie George A. Romeros Zombiehorror »Dawn of the Dead« und Virenthriller wie »The Invasion« von Oliver Hirschbiegel, »Panic in the Streets« von Elia Kazan, »The Last Man on Earth« von Ubaldo Ragona und Sidney Salkow, Fernando Mereilles' Saramago-Verfilmung »Stadt der Blinden« und natürlich, allen voran, »Contagion«, diese prophetische Warnung von Steven Soderbergh, die ungehört blieb: »2011, als der Film herauskam, konnten wir (sie) noch nicht deuten.« Schließlich sind da Vampirfilme wie »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« von Murnau. Man mag den Vampirmythos bisher noch nicht unbedingt als Virengeschichte gelesen haben, doch die Art, wie Bronfen diese Idee entwickelt, lässt sie frappierend plausibel erscheinen: das Fremde, das aus dem Osten in die westliche Welt vordringt, ein Geisterschiff mit tödlicher Fracht, der globale Handel als Auslöser und als Gegenmittel statt Schutzmasken und Händewaschen Knoblauch und Spiegel.

Als Autorin, die sich traditionell für die Rolle der Frauen interessiert, streicht Bronfen heraus, dass den Frauen in Pandemie-Erzählungen nur Nebenrollen zukommen, sie sich aber häufig für die Zukunft der Menschheit opfern. Und sie weist darauf hin, dass in diesem Feld die Rolle der besonnenen Retter auffallend häufig den People of Color zukommt. Am Ende wünscht auch sie sich, dass die Katastrophe zur Chance für ein profundes Umdenken in der Welt werden möge.

 


Elisabeth Bronfen: Angesteckt. Zeitgemäßes über Pandemie und Kultur. Echtzeit-Verlag, Basel 2020. 183 S., 32 €.

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