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15.11.2024
Chiara Fleischhacker, 31, geboren in Kassel, ist Regisseurin und Drehbuchautorin, studiert seit 2015 an der Filmakademie Baden-
Württemberg in Ludwigsburg. Während des Studiums drehte sie dokumentarische Kurzfilme, die mehrfach ausgezeichnet wurden.
Ihr erster Langfilm »Vena« über eine drogenabhängige Mutter bekam den First Steps Award. Sie lebt mit ihrer Tochter in Erfurt.
Hier würde ich dann doch
Hier würde ich dann doch widersprechen. Deadpool ist immer noch ein sehr erfrischender Superheld. Dem immer gleichen Schwadronieren von Verantwortung, Pflichtbewusstsein und Ehre begegnet er mit anarchischem Spott und schwärzestem Humor. Die alles einem bleiernen Kokon gleich einhüllende Political Correctness schießt er so mit treffsicheren Zynismus- und Sarkasmus-Salven regelrecht in Fetzen. Das hat Chuzpe, das hat Wumms, das hat Stil.
Aus Sicht der inzwischen zur Kinoweltmacht aufgestiegenen Comicfilm-Schmiede Marvel leistete man sich diesen Rotzlöffel ganz bewusst. Zwar hatte man schon immer sehr erfolgreich auf die Humorkarte gesetzt ("Iron Man", "Ant Man" und die Anarcho-Truppe der "Guardians of the Galaxy" sind v.a. auch überzeugte Spaßvögel), der Mix aus Selbstironie, Splatter und bewussten Tabubrüchen war aber durchaus eine neue und nicht ganz risikofreie Dimension. Die gewagte Rechnung ging allerdings voll auf und so blieb gar nichts anderes übrig als die zweite Runde einzuläuten. Auch das ein erneutes Wagnis, denn schließlich hatte man sich im ersten Teil ("Deadpool", 2016) ja noch ausgiebigst über die hohl drehende Sequelitis lustig gemacht und den superheldischen Overkill aufs Korn genommen.
Die Herausforderung jedenfalls war nicht zu unterschätzen und auch der phänomenale Erfolg des von der Persönlichkeit her vergleichsweise öden Kollegen "Black Panther" konnte da kaum zur Beruhigung beitragen. Es ist deutlich leichter auf der tosenden Erfolgswelle einfach ein weiteres stromlinienförmiges Boot zu steuern, als ein zweites Mal die brandgefährlichen Stromschnellen eines permanent ins Schwarze treffenden Humors zu meistern. "Deadpool 2" merkt man diese ungleich schwierigere Aufgabe sehr schnell sehr deutlich an. In fast schon hektischem Aktionismus ballert der Film im ersten Drittel einen Gag nach dem anderen unters darbende Fanvolk. Das hat nicht nur die Schlagzahl, sondern zeitweise leider auch die Streuung diverser Sitcom- und Comedy-Formate aus dem Pantoffelkino. Dennoch stellt sich praktisch schlagartig die im Erstling etablierte Partystimmung ein. Höhepunkt des lärmigen Auftakts ist eine Pseudo-Pre-Title-Sequenz, die ihr Äquivalent aus dem letzten Bondfilm SPECTRE grandios auf die Schippe nimmt.
Leider muss der Film auch so etwas wie eine Handlung erzählen, sonst wäre er ja bloß eine zweistündige Nummernrevue. Ironischerweise kommt „Deadpool 2" exakt mit dieser erkennbaren Strukturierung ins Stolpern. Inmitten einer Sinnkrise gerät unser Held an einen übergewichtigen Jungen mit Superkräften (ein gelungener Seitenhieb auf die obligatorischen Astralkörper des Genres), der zur dunklen Seite der Macht tendiert. Deadpool nimmt sich des nach Orientierung suchenden „Firefist" an und bekommt dabei Haudrauf-Unterstützung aus dem X-Men-Universum. Natürlich gibt es auch einen Widersacher, den - Überraschung - mal wieder Arbeitstier Josh Brolin verkörpert. Gerade noch hat er als Thanos den Avengers ("Infinity War") so richtig eingeheizt, schon macht er als Zeitreisender „Cable" Jagd auf Deadpools neu zusammmen gestellte Chaos-Gang um den Stahl-Russen Colossus und seine alte Freundin Negasonic Teenage Warhead.
Dieser Ensemble-Gedanke ist ein inzwischen sattsam bekanntes Stilmittel nicht nur der Marvel-Helden und dementsprechend unaufregend. Zwar wird die Team-Idee auch ein wenig durch den Kakao gezogen, aber immer mit etwas angezogener Handbremse. Das Dilemma ist offensichtlich. Einerseits will man sich über alles und jeden mokieren, andererseits soll Deadpool über kurz oder lang ins X-Men-Universum integriert werden, das nicht gerade für seine komische Seite berühmt ist. Und so wird unsere Anarcho-Ikone sukzessive gezähmt und moralisch geläutert, was dem Ur-Konzept spürbar in den Rücken fällt und nur durch die erneut schön derbe Actionisnzenierung einigermaßen austariert wird. „John Wick"- und „Atomic Blonde"-Regisseur David Leitch ist dafür immerhin genau der Richtige, schließlich musste er sich bisher keinerlei Gedanken über Familientauglichkeit machen.
Dass diese aber mit Teil 2 dennoch eingeläutet wird, ist nicht völlig zu kaschieren, also thematisiert man diesen „Verrat" einfach gleich selbst. Hier zeigt sich erneut die Pfiffigkeit der Drehbuchautoren Rhett Reese und Paul Wernick, die nicht nur mit witzigen Einfällen und popkulturllen Anspielungen um sich schmeißen können, sondern auch ein ganz feines Gespür für die Besonderheiten der Deadpool-Figur und seinem eigenwilligen Subgenre beweisen. Man hat fast das Gefühl, dass sie die eigentliche Handlung eher als lästige Pflichtübung und notwendiges Übel ansehen und sich vielmehr ihren permanenten Geistesblitzen widmen wollen. Das ist mitunter dann ein wenig ermüdend, weil nicht immer treffend und manchmal aufgesetzt, aber gerade zu Beginn und am Ende ein riesengroßer Spaß, der eine Fülle an Überraschungen, Seitenhieben und Bosheiten bereit hält.
Und Ryan Reynolds? Der hat mit dem Vigilanten-Witzbold ganz offensichtlich eine echte Lebensaufgabe gefunden. Bei Teil 2 ist er nicht nur Hauptdarsteller, sondern auch an Skript und Produktion beteiligt. Eine Herzensangelegenheit also, die sich auch in seinem lustvoll engagierten Spiel zeigt. Denn trotz seiner Entstellungen sieht man Deadpool diesmal auffallend oft ohne Maske, was Reynolds deutlich mehr Entfaltungsmöglichgkeiten bietet. Sein Glück, dass auch Kollege Brolin trotz Binge-Starring eine tolle Gegenperformance als knurriger Zeitreise-Rambo abliefert, der Flapsigkeit gerne mit kernigen Sprüchen kontert.
Fazit:
Deadpool ist auch in seinem zweiten Solo-Auftritt noch ein erfrischender Gegenwind zur Stromlinienförmigkeit seiner fast ausnahmslos politisch korrekten Kollegen. Ein Orkan ist das Ganze aber trotz nach wie vor hoher Zynismus- und Sarkasmus-Dichte nicht mehr. Die pop- und v.a. selbtsreferentiellen Anspielungen verkommen mehr und mehr zum Selbstweck und können den erneut dünnen Grundplot nicht mehr ganz so spielend vergessen machen. Ein derbes Lustspiel wird dank der erneut schmackhaften Rezeptur auch hier wieder geboten, für einen dritten Teil aber würden ein paar neue Einflüsse ganz sicher nicht schaden.
Marcus Lachmund