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Frankreich 1940. In den Gesichtern der Männer spiegelt sich die pure Angst. Aufgereiht wie Lemminge stehen sie am Strand und warten auf ihre Einschiffung in die rettende Heimat. Zurückgetrieben und eingekesselt vom Gegner erwarten sie schonungslos exponiert den jederzeit möglichen Todesstoß durch feindliche Panzer und Flieger. Später sollten sie von einem Wunder sprechen, dem „Wunder von Dünkirchen".

Die ersten 15 Minuten von Cristopher Nolans „Dunkirk" sind mit das Beste, was der sonst so formelhafte anglo-amerikanische Kriegsfilm zu bieten hat. Dieses Prädikat teilt er mit Steven Spielbergs „Saving Private Ryan", wenn auch aus ganz anderen Gründen. Während der eine die Strände der Normandie in ein blutiges Fleischwolf-Chaos verwandelt und das physische Grauen des Krieges auf unangenehmste Weise spürbar macht, geht der andere praktisch den entgegengesetzten Weg und konzentriert sich nicht minder wirkungsvoll auf die psychischen Grenzerfahrungen von völliger Hilflosigkeit, resignativer Frustration und schierer Todesangst. Leider kann der Film - auch das eine Parallele zu Spielberg - nicht halten, was er mit seinem fulminanten Auftakt verspricht. Am Ende bliebt nicht viel mehr als ein enttäuschtes „So what?"

Dabei hat Nolan ein so klar erkennbares wie ungewöhnliches Konzept um sich der Ausnahmesituation Krieg zu nähern. Anders als Spielberg wirft er seinen Ansatz nicht unvermittelt über Bord und führt den Auftakt damit ad absurdum. Anders als Spielberg tappt er auch nicht in die Heroisierungs- (der eigenen Truppen) und Diffamierungs-Falle (des Gegners) der emotionalen Manipulation. Im Gegenteil. Nolan bleibt unbeirrbar, beinahe stoisch auf seinem unterkühlten Kurs und erleidet damit ebenfalls Schiffbruch. Wenn auch - und das muss fairerweise gesagt werden - bei weitem nicht so desaströs und total wie Spielberg.

„Dunkirk" wird momentan vielerorts bereits als Meisterwerk und Nolans bis dato ungewöhnlichster weil untypischster Film gefeiert. Zutreffend ist keine der beiden Behauptungen, am wenigsten letztere. Nolans größte Stärke liegt in seiner wuchtigen Überwältigungsoptik. Wie kein zweiter zeitgenössischer Filmemacher schafft er kraftvolle Bildkompositionen, die sich beim Zuschauer förmlich einbrennen. Während das moderne Blockbusterkino auf pausenlose Schnitte, eine enervierend hibbelige Kamera und völlig überladene CGI-Effekte setzt, erinnern Nolans Filme mit ihren elegischen 70mmm-Panoramen und betont ruhigen Kamerafahrten an Cinemascope und Breitwand-Epen der 50er und 60er Jahre. Dieser bewusst altmodische Ansatz ist zum Nolanschen Markenzeichen geworden, das er spätesten mit seinen beiden Batman-Sequels („The Dark Knight" und „The Dark Knight Rises") perfektioniert hat.
Diese Bilder präsentiert Nolan mit Vorliebe und dunklen, gedeckten Farbtönen, die den ernsten, kühlen Ton seiner Filme visuell verstärken bzw. komplettieren. Dazu passt es gut, dass er sich mit Gefühlen, vor allem romantischen, äußerst schwer tut, oder sich erst gar nicht dafür interessiert. Versucht er es dann doch einmal wie in „Inception" oder „Interstellar", gleitet er entweder in Oberflächlichkeiten oder Kitsch ab, in jedem Falle bleibt einem der emotionale Zugang verwehrt. Nolan nähert sich damit mehr und mehr seinem Vorbild Stanley Kubrick an, der trotz aller inszenatorischer Meisterschaft und Intelligenz ebenfalls nie ein Gespür für Gefühle besaß.
Schließlich haftet seinen Filmen stets etwas Akademisches und Analytisches an. Seine Charaktere gleichen dabei Schachfiguren, die für die jeweiligen Erkenntnisse, Thesen und Ansichten in Stellung gebracht werden. Das lässt sie mitunter abstrakt und chiffrenhaft wirken, was im Wirkungsfeld eines Spielfilms zumindest gewagt ist. Nolans Faszination für Wissenschaft und Mathematik tritt damit noch stärker hervor und wird vor allem in seiner „Raum-Zeit-Trilogie" („Prestige", „Inception" und „Interstellar") zum bestimmenden Faktor.

So gesehen ist „Dunkirk" reinster Nolan, mehr noch, er treibt all seine Manierismen und bevorzugten filmischen Stilmittel auf die Spitze, so dass man zum allerersten Mal einen völlig unverstellten Blick auf das Wesen der Nolanschen Formel bekommt. Die Bilder der von der Wehrmacht eingekesselten englisch-französischen Truppen gleichen elegischen Gemälden. Hier gibt es keine Hektik, keine Unübersichtlichkeit, keine Orientierungslosigkeit. All dies spielt sich in den Köpfen der Soldaten ab, in ihren angsterfüllten, traumatisierten und resignierten Blicken. Das äußere Kriegsgeschehen wird dagegen betont sachlich, nüchtern und gänzlich unaufgeregt präsentiert. Selbst die Luftkämpfe zwischen einer Handvoll britischer und deutscher Flugzeuge sind fast aufreizend übersichtlich und langatmig inszeniert.
All dies taucht Nolan in eine monochrome Farbpalette mit der klaren Dominanz eines enorm kalt wirkenden Türkis. Nähe, oder gar Realismus erzeugt er so nicht, was bei seiner abstrakten Herangehensweise vordergründig sinnig erscheint, im Endeffekt aber die Schwächen des Films nur noch verstärkt. Denn wo keine emotionalen Anküpfungspunkte, wo keine Empathieangebote, da auch keine nachhaltige Wirkung. Nolan will den Krieg zeigen wie er wirklich ist, wie er sich auf die Psyche des Menschen auswirkt und vergisst dabei das Menschliche. Er scheint weit mehr an seinem vermeintlich genialen Konzept dreier Zeitebenen interessiert, als am Schicksal seiner Figuren. Vermeintlich, weil der anfangs spannende Aspekt nicht nur schnell verpufft, sondern am Ende keinerlei Relevanz besitzt. Vermeintlich auch, weil Nolan diesen Kniff gleich zu Beginn via Einblendungen („Am Strand - eine Woche, auf See - ein Tag, in der Luft - eine Stunde") „verrät" und vermeintlich, weil man es ohne diese Ankündigung wohl nicht einmal bemerkt hätte. Die drei Protagonisten (Fion Whitehead und Harry Styles als einfache Soldaten am Strand, Mark Rylance als ziviler Skipper auf nationaler Rettungsmission und Tom Hardy als Pilot der Royal Air Force) stehen symbolisch für die jeweiligen Zeitabschnitte, persönlich erfährt man über sie so gut wie nichts. Darüber hinaus verzichtet Nolan über weite Strecken gänzlich auf jedweden Dialog, was die Figuren noch abstrakter und symbolhafter wirken lässt.

Nolan vertraut ganz und gar auf die Macht der Bilder und die Musik seines Hofkomponisten Hans Zimmer. Dessen ungewöhnlicher Score besteht aus einem dauerhaften Grummeln und Brummen in Moll, durchmischt mit Flugzeug-, Wasser- und Schiffsgeräuschen sowie begleitet vom ständigen Ticken einer Taschenuhr (Nolans eigener!). Auch dies wieder ein genialer Einfall, der aufgrund fehlender Emotionalität einen Großteil seiner Wirkung einbüsst und zunehmend akustisch ermüdet.
Und die eigentliche Handlung? Immerhin hat das „Wunder von Dünkirchen" enormes dramatisches Potential (vom Feind eingekesselt, scheint der völlige Untergang nur noch eine Frage der Zeit). Wieder wird die totale Reduktion zum Stilmittel erhoben. Nolan befreit den Film von allem dramaturgischen und erzählerischen Ballast, der manche seiner Werke so barockhaft und schwer wirken lässt. Der deutsche Gegner taucht praktisch nicht auf,  eine Rahmenhandlung rund um die Ereignisse von Dünkirchen existiert nicht, statt dessen präsentiert Nolan lediglich eine permanente Aneinanderreihung von Situationen und Episoden an seinen drei Schauplätzen. Die für viele überraschend kurze Laufzeit von nur 107 Minuten - Nolan machte es zuletzt nicht mehr unter zweienhalb Stunden - ist somit nicht nur konsequent, sondern völlig logisch. Dem Primat der totalen Entschlackung und Entrümpelung gängiger Spielfilmmuster hat sich auch die Narration unterzuordnen.

Das mit dem Film verfolgte Ziel ist klar, die Intelligenz hinter der unorthodoxen Herangehensweise bewundernswert, aber was nützt es, wenn sich die anvisierte Wirkung einfach nicht einstellen mag? Für die Briten ist das „Wunder von Dünkirchen" ein nationales Sinnbild der eigenen Stärke, des eisernen Durchhaltens und des inneren Zusammenhalts. Die desaströse militärische Niederlage in Frankreich, die nun unvermeidliche Eroberung der schutzlosen britischen Insel vor Augen, die niemals für möglich gehaltene Evakuierung beinahe des gesamten britischen Expeditionskorps und damit die Möglichkeit den Krieg fortzusetzen, haben sich in die englische Seele gebrannt wie nur wenige historische Ereignisse davor und danach. Dass ein solcher Film ausgerechnet in Zeiten des Brexit Premiere feiert, also in Zeiten in denen man wieder auf sich allein gestellt praktisch dem Rest der Welt die Stirn zeigen muss, ist sicher kein Zufall. In England mag Nolans Chiffren- und Abstraktions-Konzept damit sehr wahrscheinlich auf fruchtbaren Boden fallen. Die elementare Bedeutung von „Dunkirk" dem Ereignis muss hier niemand mehr erklärt werden.
 
Relevante Adressaten außerhalb der Insel dürfte Nolan mit diesem Film allerdings nur schwerlich finden. „Dunkirk" ist weder packend, noch spannend und schon gar nicht berührend. Dass Ausgang wie Verlauf der Operation "Dynamo" bekannt sind, taugt hier kaum als Entschuldigung. James Camerons "Titanic" hat dieses Argument ein für alle mal entkräftet. Zumal die auf ein Minimum verkürzte Distanz auch bei Nolan Programm ist. Als Zuschauer ist man ganz nah am Geschehen, aber leider eben auch ganz weit weg. Was bleibt also?
Ein analytisch bis ins Detail durchgeplanter Konzeptfilm im Blockbustergewand mit sehr viel Hirn, aber nur sehr wenig Herz. Ein fraglos interessantes und mutiges filmischen Experiment dem Wesen des Krieges näher zu kommen. Ein Experiment, das mit zunehmender Filmdauer aber auch immer mehr versandet und letztlich nicht aufgeht. Das durchgängig repetive Moment ist dabei die zentrale Achillesferse. Eine Szene mit enormen Symbolcharakter gibt es dennoch, wenn auch ganz sicher nicht so von Nolan intendiert: da diskutieren Soldaten in einem von Kugeln durchsiebten Fischkutter darüber, unnötigen Ballast über Bord zu werfen um den Untergang zu verhindern. „Dunkirk" der Film dagegen zeigt, dass man auch havarieren kann, wenn man zu viel Ballast über Bord wirft.

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