Auf dem richtigen Fuß
Es kam dann alles ganz anders. Aber es kam nicht so, als dass man sein Eintrittsgeld hätte zurückverlangen müssen. Die Akzente verschoben sich mächtig. Ein Podiumsgast trat bescheiden hinter einen anderen zurück. Die Theorie überließ der Praxis das Feld. Mehr oder weniger.
Die Ankündigung des Alexander Verlages hatte für den Abend noch einen anderen Verlauf in Aussicht gestellt. Pierre Gras sollte über sein Buch "Good bye Fassbinder!" sprechen, in dem er sich mit dem deutschen Kino nach der Wiedervereinigung beschäftigt und das nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Gras ist ein kenntnisreicher Vermittler. Dass sich ein Franzose mit dem hiesigen Kino auseinandersetzt, ist für sich schon bemerkenswert. Das Gegenteil jedoch wäre undenkbar. Die Deutungshoheit über das französische Kino würde man dort schwerlich einem deutschen Autor überlassen. Ein Dialog zwischen beiden Filmländern fände kaum statt, hieß es zu Beginn der 42. Veranstaltung von "Revolver Live!" im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, man wolle ihm auf die Sprünge helfen.
Gras teilte sich das Podium mit seinem Freund Serge Bozon, dem hier zu Lande kaum bekannten Filmemacher, der in meinem Blogeintrag "Der inspirierte Zufall" vom 7. November letzten Jahres die eher unrühmliche Rolle des Dandys spielte. Die Filmemacherin Saskia Walker übernahm den schwierigen Part der Simultan- Übersetzerin, die Moderation des Gespräches lag bei Marcus Seibert, der Gras' Buch übersetzt hat. Zuvor war im benachbarten Kino Babylon ein früher Film Bozons gelaufen, Mods, um den es allerdings selten ging bei der Diskussion. Seibert stellte vor allem Fragen zu Bozons jüngstem Film Tip Top, bei dem ich nach einigen Minuten ausgestiegen war, als ich ihn auf DVD sah, weil er mir einer jener Filme zu sein schien, die komisch sein wollen, aber nicht lustig sind. Sie merken schon, die ganze Chose erwischte mich erst einmal auf dem falschen Fuß. Dann entwickelte sie sich jedoch so, dass ich bedauerte, mich aus Tip Top so rasch verabschiedet zu haben.
Seibert befragte Bozon beharrlich zu seinem Werk, das wohl nur einem Bruchteil des Publikums bekannt war. Dem Regisseur bereitete das sichtliches Vergnügen, den Zuschauern ebenso. Bozon war ein lebhafter Gesprächspartner. Sein hitziger Sprechduktus allein ist schon unterhaltsam. Als ehemaliger (aber, wie er betonte, unbezahlter) Filmkritiker liebt er die Argumentation. Er stellte provokante Thesen auf – für ihn ist Eric Rohmer der politischste Filmemacher der 90er Jahre, weil er sich mit Machtverhältnissen beschäftigte und so aus dem Kanon französischer Filme ausscherte, die sich vorrangig an der Sozialmisere abarbeiteten. Er gab sich als glühender Bewunderer des Hollywoodkinos (Ford, Fuller, Ray) zu erkennen und riet dringend davon ab, sich radikale Filmemacher wie Bresson, Godard, Duras oder Straub zum Vorbild zu nehmen. Sie böten einfach zu wenig Spielraum, da sei das klassische Kino ein viel ertragreicheres Referenzfeld. An dieser Stelle hätten die Parteigänger der frühen Berliner Schule eigentlich erst mal kräftig schlucken müssen, denn war Bresson nicht einer ihrer Säulenheiligen und war/ ist die Zeitschrift "Revolver" nicht deren Zentralorgan? Aber selbst Christoph Hochhäusler schwieg dazu. Später stellte er eine interessante Frage, die die Antwort eigentlich schon in sich trug: Wie kommt es, dass wir uns mittlerweile in der dritten Generation der Cinéphilie auf ein Kino beziehen, das vor-cinéphil, also ursprünglich und nicht selbstreflexiv ist und dessen Metaphern deshalb um so stärker sind?
Bozon bot eine kritische Lesart der letzten zwei Jahrzehnte im französischen Kino an, dessen Leitfiguren Bresson und Pialat waren. Er mag Pialat, die Gewalt, den Zorn, der in seinen Schnitten zu spüren ist. Die Nachahmer schätzt er nicht. Seine Antworten waren ein eigensinniges Zeugnis französischer Cinéphilie. für die beispielsweise Hitchcocks Hollywoodarbeiten mitunter zu barock sind und die im Gegenzug bei Lang dessen Nacktheit des Stils schätzt. Die jungen Regisseure in Frankreich bezögen sich heute vor allem auf das Kino der siebziger Jahre, berrichtete Bozon; als sei es ein ehernes Gesetz, dass jede neue Generation ihre unmittelbaren Vorgänger zum Schweigen bringen müsse und ihre Inspiration in der entlegeneren Vergangenheit sucht.
Interessant fand ich auch, wie er Rohmers Idee folgte, das Kino sei die einzige Kunstfor, bei der die Moderne einen Rückschritt zulässt. Während in der Musik ein Rückgriff auf Stilformen vor der Atonalität (oder in der Malerei ein Bezug auf die Figürlichkeit)als heillos reaktionär angesehen wird, ist das Kino großzügiger: Es stößt die Tür zur Moderne auf, ohne die anderen zu verschließen. Pierre Gras hielt sich bei all dem besonnen zurück, begnügte sich damit, gelegentlich ein Stichwort zu geben oder einen Punkt zu präzisieren. Eine glückliche Arbeitsteilung, obwohl von seinem Buch dann nie mehr die Rede war. Bozon zeigte sich auch diesmal als Dandy, aber viel vergnüglicher als im November in Paris.
Es war ein Abend für Eingeweihte und solche, die es werden wollen. Bemerkenswert erschien mir das Verhältnis von Vertrieb und Gerücht. Bozons Filme waren in Deutschland jenseits von Ausstrahlungen auf arte bislang praktisch unsichtbar. Seibert und einige wenige andere kannten sie genau. Von Festivals? Auf Empfehlung von Freunden? Die Cinéphilie erfindet eigene Wege, die Kunde zu verbreiten. Manche Kinos helfen natürlich mit. Im Herbst will das Berliner Arsenal eine Reihe mit Filmen von Bozon und seiner Autorin Axelle Ropert zeigen. Wer weiß, ob bei der Gelegenheit auch Gras zu Wort kommt? Und ob ich mir Tip Top dann doch noch anschaue?
Kommentare
Serge Bozon
Lieber Gerhard Midding, danke für ihre lustvolle Anteilnahme. Nur ein Detail: die Theorie, wonach man nur im Kino „zurück” könne, nicht jedoch in den anderen Künsten, stammt von Rohmer. Bozon hat sie nur zitiert. Grüße, C
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