Cannes 2018 Abschluss: Asia Argento klagt an
Die stärkste emotionale Reaktion ging diesmal nicht von einem dankbaren, gerührten Preisträger aus, sondern von einer Schauspielerin, die im Wettbewerb dieses 71. Filmfestivals von Cannes gar nicht angetreten war. Die Italienerin Asia Argento sollte den Darstellerinnenpreis mitvergeben, feuerte aber statt der üblichen, vom Teleprompter abgelesenen Laudatio ein selbst formuliertes Statement ab: »1997 bin ich von Harvey Weinstein hier in Cannes vergewaltigt worden. Ich war 21 Jahre alt. Das Festival war sein Jagdrevier«, begann die zierliche Schauspielerin mit Furor ihre kurze Rede und das 3000-köpfige Auditorium war hörbar schockiert. Wut und Aufregung spürte man jedem ihrer Worte an, die sie direkt an das Publikum im Palais Lumiere richtete: An die, die Weinstein lange gedeckt hätten und an die, für ihr verbrecherisches Verhalten gegen Frauen noch nicht zur Verantwortung gezogen worden seien. »Ihr wisst, wer ihr seid, aber auch wir wissen, wer ihr seid. Und wir werden euch nicht mehr davon kommen lassen!« Der donnernde Applaus, der darauf folgte, klang eher so, als wollte er das eben Gehörte übertönen als es gutheißen. Jury-Präsidentin Cate Blanchett fand für einen kurzen Moment nur schwer ihre Stimme wieder und verriet damit, wie tief bewegt sie von Argentos Ausbruch war.
Die von Argento erhobenen Vorwürfe sind seit Beginn des Weinstein-Skandals bekannt – und werden vom Angeklagten bestritten –, trotzdem wirkte die Anspannung nach Argentos Auftritt lange nach an diesem Abschlussabend des 71. Filmfestivals. Die Vergabe der einzelnen Palmen verlief wie in gedämpften Tönen. Verstärkt wurde der Eindruck durch eine Auswahl von Preisträgern, die darauf hindeutete, dass die neunköpfige Jury (bestehend aus den Schauspielern Cate Blanchett, Léa Seydoux, Kristen Stewart und Chang Chen, den Regisseuren Ava DuVernay, Denis Villeneuve, Robert Guédiguian und Andrey Zvyagintsev und der Sängerin Khadja Nin) sich jeweils eher für Kompromisslösungen denn für Leidenschaftsvoten entschieden hat.
Anders als weithin erwartet in Zeiten von #metoo verliehen die fünf Frauen und vier Männer die Goldene Palme also nicht an eine Regisseurin. Jane Campions einsamer Rekord, 1993 mit ihrem »The Piano« als einzige Frau in der Geschichte des Festivals eine Goldene Palme gewonnen zu haben (die sie wohl gemerkt mit dem Chinesen Chen Kaige teilen musste), bleibt bestehen. Statt dessen ging die höchste Auszeichnung des Festivals an den bereits zum siebten Mal in Cannes angetretenen Japaner Hirokazu Koreeda für sein Familiendrama »Shoplifters«. Die meisten freuten sich über den Preis für einen der am besten besprochenen Filme des Festivals, dessen Regisseur wegen seiner verhaltenen, fein ausdifferenzierten Handschrift allzu oft schon übergangen wurde.
Trotzdem stand auch das Gefühl einer vertanen Chance im Raum – schließlich hätte eine Goldene Palme für eine Frau als Signal gegolten. Als Ironie kann gelten, dass gerade die im Vorfeld wieder und wieder beschworene Erwartung – diesmal bekommt sie eine Frau! – den tatsächlichen Ausgang untergraben hat. Um Eigenständigkeit zu beweisen blieb Blanchett und ihren Kollegen fast nichts anderes übrig, als von den Vorhersagen abzuweichen. Immerhin zeichneten sie zwei der drei im Wettbewerb angetretenen Regisseurinnen mit anderen Palmen aus. Nadine Labaki aus dem Libanon, die für ihren ergreifenden Film über Kinderarmut in Beirut, »Capharnaum« als hohe Favoritin gegolten hatte, erhielt den Spezialpreis der Jury, gewissermaßen die Bronzemedaille des Festivals. Und die Italienerin Alice Rohrwacher, die mit ihrem Neorealismus-Märchen »Happy as Lazzaro« Publikum und Kritik gleichermaßen verzaubert hatte, bekam den Drehbuch-Preis. Allerdings musste sie ihn teilen mit Nader Saeivar und dem in seiner Heimat Iran unter Anklage stehenden Jafar Panahi für »3 Faces«. Die vielen Reden, die während des Festivals zur Unterstützung von Frauen in der Filmindustrie gehalten wurden, hätten einen kräftigere Unterstreichung verdient gehabt.
So galt die Zustimmung an der Croisette mehr dem Gesamtfeld der Preisträger als der tatsächlichen Verteilung. Viele hätten die Goldene Palme auch dem Amerikaner Spike Lee und seiner wunderbar bösen Satire über einen Afroamerikaner, der den Klu Klux Klan unterwandert, »BlacKkKlansman«, verliehen. Mit flottem Tempo und viel Humor war »BlacKkKlansman« bei Weitem der unterhaltsamste Film des Wettbewerbs – über die Auszeichnung mit dem Grandprix war Spike Lee, der nach 19 Jahren erstmals wieder in Cannes zurück war, trotzdem sehr bewegt. Ansonsten zeigte die Jury die auf Festivals übliche Vorliebe für das miserabelistische Kino, das Armut, Gewalt und Unterdrückung in der Welt illustriert. So gingen beide Darstellerpreise an Außenseiter, die ein solches Milieu authentisch verkörpern: die Kasachin Samal Yeslyamova spielt in »Ayka« eine ausgebeutete, illegale Migrantin, die ihr Neugeborenes aufgeben muss. Der Italiener Marcello Fonte stellt in »Dogman« einen schüchternen, klein gemachten Hunde-Salon-Betreiber dar, der eines Tages gegen seinen Demütiger aufbegehrt.
Die Palme für den besten Regisseur ging an den Polen Pawel Pawlikowski für seine schicksalshafte Liebesgeschichte »Cold War«, gefilmt in elegischem, hocheleganten Schwarzweiß. Pawlikowskis legte seine Dankesrede als implizite politische Botschaft an, indem er den Preis »für ganz Polen« akzeptierte und dann aufzählte, was er an seinem Land so liebt: Toleranz, Humor und Weltoffenheit.
Und dann gab es noch eine Goldene Palme, allerdings außerhalb der Kategorien, so hatte es sich die Jury von Festivaldirektor Thierry Frémaux erbeten. Sie ging an den 87-jährigen Altmeister Jean-Luc Godard und sein experimentelles Videoessay »Le livre d'image«. Der Film, in dem Godard in raunender Weise über die Mittel des Films und das Schicksal der »arabischen Welt« reflektiert, habe die Jury nicht mehr losgelassen. Godard definiere das Kino immer wieder neu. Und mit anderen Regisseuren wirklich vergleichen lässt sich Godard schon lange nicht mehr.
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