Cannes 2017: Botschaften von Eigensinn, Offenheit und Gleichberechtigung
Es war eine selten gut gelaunte Jury, die zum Abschluss des 70. Filmfestivals von Cannes unter Vorsitz des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar die Preise vergab. Ganz offenbar hatten sich – anders als etwa im Vorjahr, als der hoch favorisierte »Toni Erdmann« leer ausging – die neun Mitglieder auf gemeinsame Werte verständigen können. So setzte das Jury-Kollektiv, zu dem Schauspielstars wie Will Smith und Jessica Chastain und wie zur Wiedergutmachung die deutsche »Toni Erdmann«-Regisseurin Maren Ade gehörten, Zeichen, die sich als Botschaften verstehen lassen: für den Eigensinn des Autorenkinos, für eine offene Gesellschaft und für die Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen.
Die Goldenen Palme ging jedoch auch in diesem Jahr wieder nicht an eine Frau, sondern an die schwedische Kunstwelt-Farce »The Square« von Ruben Östlund. Jurypräsident Almodóvar lobte ihn als zeitgemäßen Film über den Umgang mit den Medien und als Appell gegen die »Diktatur der politischen Korrektheit«. In der Geschichte um einen privat und beruflich in Bedrängnis geratenden Museumskurator lotet Östlund auf geistreiche Art die Schwierigkeiten aus, die die modernen, zur Toleranz verpflichteten Gesellschaften mit normverstoßendem Verhalten haben. Ohne allzu plakativ auf Ereignisse wie die Flüchtlingsfrage einzugehen, erwies sich »The Square« sowohl als zugängliche Komödie als auch als hintersinniger Kommentar zur Lage in Europa.
Ein deutliches Zeichen setzte die Jury mit der Vergabe des Regie-Preises an die Amerikanerin Sofia Coppola. Sie ist damit – nach der russischen Regisseurin Julija Solnzewa 1961 – erst die zweite Frau der Festivalgeschichte von Cannes, der diese Ehre zuteil wird. Coppolas Romanverfilmung »The Beguiled« spielt im amerikanischen Bürgerkrieg und erzählt vom fatalen Zusammentreffen eines Unions-Soldaten mit den Bewohnerinnen eines südstaatlichen Mädchenpensionats. Während die Jury betonte, dass Coppola keineswegs als Quotenfrau ausgewählt worden sei, bekannte sie sich zugleich dazu, Filmemacherinnen und starke weibliche Rollen unterstützen zu wollen. So beklagte Jurymitglied Jessica Chastain das eingeschränkte Frauenbild, das in der Gesamtschau der 19 Wettbewerbsbeiträge präsentiert wurde. Sie wünsche sich für die Zukunft mehr eigenständige Frauenfiguren mit eigener Agenda und Handlungsspielraum. Wozu Will Smith lakonisch anfügte, dass dem Festival auch mehr farbige Figuren nicht schaden könnten.
Ein gutes Beispiel für eine starke Frauenfigur immerhin fand die Jury in Diane Kruger, die für ihre Rolle in Fatih Akins »Aus dem Nichts« ausgezeichnet wurde. Kruger, in Niedersachsen geboren und bislang ausschließlich in internationalen Produktionen zu sehen, zeigte sich stark bewegt davon, für ihren ersten Auftritt in einem deutschen Film geehrt zu werden. In »Aus dem Nichts« erzählt Akin von einer Frau, deren Mann und Kind bei einem fremdenfeindlichen Anschlag umkommen und die sich danach auf eine einsame Suche nach Gerechtigkeit begibt. Inspiriert von der Geschichte der NSU-Morde ist der Film weniger ein Debattenbeitrag als ein emotionaler Appell gegen die gesellschaftliche Gleichgültigkeit.
Einen Frauenfilm ganz anderer Art stellte die Jury mit zwei Preisen für Lynne Ramsays »You Were Never Really Here« heraus. In dem Gewaltthriller geht es um einen traumatisierten Mann, der in Alleinmission brutal gegen Mädchenhandel vorgeht. Für die Verkörperung des gebrochenen und andere brechenden Mannes erhielt Joaquin Phoenix den Preis als bester Darsteller. Regisseurin Ramsay, gebürtige Schottin, die vor Jahren schon einmal mit »We Have to Talk About Kevin« in Cannes vertreten war, wurde für das beste Drehbuch geehrt. Sie muss sich den Preis allerdings mit dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos und dessen »The Killing of a Sacred Deer« teilen. Dabei gaben die beiden Filme ein gutes Paar ab: Ramsay und Lanthimos ragten mit Mut zur abseitigeren Dramaturgie heraus.
Der Grand Prix, die Silbermedaille des Festivals, ging dafür an einen Film, der konventionelle Form und fortschrittlichen Inhalt auf mitreißende Weise verbindet: In »120 battements par minute« stellt der französische Regisseur Robin Campillo eine Anti-Aids-Aktivistengruppe im Paris der 90er Jahre nach, die für Aufklärung und medizinische Versorgung kämpft. Im krassen Gegensatz zur Wärme des kollektiven Engagements in»120 battements par minute« steht die gesellschaftliche Kälte, die der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev in seinem mit dem Jurypreis ausgezeichneten»Loveless« schildert. In dem meisterlich kühl inszenierte Drama geht es um ein Ehepaar in Scheidung, das dem gemeinsamen Sohn so wenig Liebe zeigt, dass der eines Tages wegläuft.
Einmalig zum Anlass des 70. Jubiläums des Festivals kreierte die Jury einen Sonderpreis, um auch noch die australische Schauspielerin Nicole Kidman zu bedenken, die mit rekordverdächtigen vier Filmen im offiziellen Programm vertreten war. Letztlich kamen aber offenbar nicht alle Lieblingsfilme zu ihrem Recht: Will Smith gab jedenfalls in der Abschlusspressekonferenz scherzhaft zu, dass »Demokratie manchmal Mist« sei, hatte er doch einen seiner Favoriten, die ungarische Filmparabel »Jupiter's Moon« um einen syrischer Flüchtling mit Jesus-haften Zügen, nicht durchsetzen können.
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